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Literatur und Wissenschaft

In der zukünftigen Form einer ,,Wissenschaftsliteratur`` sollten das Menschenschicksal und die Naturgeschichte prinzipiengeleitet mit der Kulturentwicklung und den wissenschaftlich-technischen Innovationen gleichsam in einer dynamischen Komposition von geometrisch-sprachlichem Ausdruck und energetisch-gedanklichem Inhalt in zugleich logisch wie episch gebundener Kosmogonie die Einheit von Wissen und Sein reproduzieren. Nach den bereits gegebenen Hinweisen aus dem Zusammendenken der Werke Einsteins und Manns böten sich für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Persönlichkeiten und Werke des Physikers Richard Feynman , des Cineasten Stanley Kubrick und des Komponisten György Ligeti an. Im 21. Jahrhundert werden Wissenschaft und Technik zunehmend in die Informationstechnik aufgehen und die bildenden Künste mit Literatur und Musik in die Medientechnik einbezogen. Als Protagonisten der Informationstechnik haben sich Bill Gates und Linus Torwalds hervorgetan. Und in der Medienästhetik? Hollywood vielleicht? Die wissenschaftlich-technischen Innovationen scheinen die ästhetisch-künstlerische Avantgarde jedenfalls weit überflügelt zu haben. In Zukunft sollten technische Intelligenz und künstlerische Kreativität vermehrt zusammenkommen, um die beiden Kulturen sowohl praktisch wie konzeptionell ineinander übergehen zu lassen. Dabei sollte natürlich auch wieder mehr Wert auf eine kulturübergreifende Bildung im Sinne des Studium Generale gelegt werden. Neben den sprachlich-formalen Voraussetzungen in den natürlichen Sprachen sowie Mathematik und Informatik in Verbindung mit praktischen Unterweisungen durch Sport und Spiel, Kunst und Technik, sollten die Prinzipien der westlichen Zivilisation gelehrt und erst daran anschließend das je besondere Wissen und Können der Fachgebiete vermittelt werden. Die Prinzipien der westlichen Zivilisation können dabei für alle Menschen als leitend angesehen werden, weil sie ein Abstraktionsniveau erreicht haben, das bezüglich (fast) aller Kulturen invariant sein dürfte. Der amerikanische Kulturkritiker Neil Postman hat immer wieder die Einbettung der Bildung in die ,,großen Erzählungen`` der Menschheit gefordert. Zuletzt in der Proklamation einer zweiten Aufklärung für das 21. Jahrhundert. Neben der Erzählung vom ,,Raumschiff Erde`` auf seinem einsamen Weg durchs All, als dessen Kinder wir uns verstehen sollten, schlägt er z.B. die ,,europäische Zivilisation`` und das ,,amerikanische Experiment`` vor, in die alle Bildung integriert werden sollte. Andere Kulturen könnten entsprechende Rahmenerzählungen wählen, um die nächsten Generationen auf die zivilisierte Weltgesellschaft vorzubereiten. Gemessen an diesen hehren Visionen von einem gemeinsamen Weg in die zivilisierte Weltgesellschaft, machen die vielfach in Spezialgebiete und unverbundenem Faktenwissen zerteilten Bildungsangebote der Schulen und Hochschulen genauso wie die Medien, seien es nun Bücher oder Algorithmen, einen leider deprimierenden Eindruck. Einen Ausweg aus dieser Vereinzelung und Spezialisierung der Lebenswelten scheint mir lediglich das Internet zu bieten. Dort sollten vermehrt Bildungsportale entstehen, um bisher unverbundenes Faktenwissen sinnvoll zu vernetzen. Dann könnten sich Schule und Hochschule im wesentlichen auf die Vermittlung der Prinzipien-Kenntnisse und Labor-Praktika konzentrieren. Beispiele und Anwendungsfälle könnten im Internet bereitgestellt werden; von der einfachen Datenbank bis hin zur komplexen Simulation. Ob all die nicht nur von Postman gemachten Vorschläge zur Wiederbelebung des Bildungsgedankens im Studium Generale einmal realisiert werden sollten, bleibt abzuwarten.

Nach den allgemein gehaltenen Wunschvorstellungen kulturübergreifender Bildung auf dem Weg in die zivilisierte Weltgesellschaft, möchte ich zum Schluß noch kurz einige gelungene und nachahmungswerte Erkenntnis-Künstler vorstellen, denen es in ansprechender Weise gelungen ist, wissenschaftliche Gehalte in literarischen Formen vorzutragen.

1.
Hoimar von Ditfurth , Innenansichten eines Artgenossen, Düsseldorf 1989
2.
Jostein Gaarder , Sofies Welt , München 1992
3.
Douglas Hofstadter , Goedel, Escher, Bach, New York 1979
4.
Bert Gaard, Die Rätsel der Welt , Hamburg 1996
5.
Josef M. Jauch, Die Wirklichkeit der Quanten, München 1973
6.
Harald Fritzsch, Die verbogene Raum-Zeit , München 1996
7.
Russell Mc Cormmach, Night Thoughts of a Classical Physicist, Harvard 1982, 1991
8.
Michael Frayn, Copenhagen , London 2000,
9.
Gregory Benford, Timescape, New York, 1980, 1992
10.
Hans Magnus Enzensberger, Die Elixiere der Wissenschaft , Frankfurt a.M. 2002

Gesellschaften stellen nach Habermas systemisch stablilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen dar. Kultur, Gesellschaft und Person als Komponenten der Lebenswelt sind dabei innig verschränkt mit den Systemregulationen durch Geld und Macht in Wirtschaft und Staat. Habermas hat 1981 mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns eine beachtenswerte Gesellschaftstheorie vorgelegt. Vorzuwerfen bleibt ihm aber die Vernachlässigung von Natur und Technik. Nicht nur unsere Arbeitswelt, sondern auch der öffentliche Raum bis hin in unsere Privathaushalte wird zunehmend durch Technik bestimmt. Und des natürlichen Raumes unserer Biosphäre hier auf der Erde bei ihrem Flug durchs All werden wir uns immer wieder bewußt durch die Wechselfälle des Wetters und Klimawandels wie auch durch Naturkatastrophen und Unfälle. Das immer häufiger auftredende menschliche Versagen in der zur Risikogesellschaft gewandelten Industriegesellschaft verweist deutlich auf ein Auseinanderlaufen von Kultur und Natur. Unserer ,,Naturvergessenheit`` entpricht die mangelnde Einbeziehung der Naturwissenschaften in die vornehmlich durch Geld regulierte Machtpolitik. Die gegenwärtige Weltgewaltordnung wird nach wie vor dominiert von Militärmacht, Religionswahn und Geldgier.

Einen Ausweg aus der Misere der durch Willkür entfesselten Globalisierung ist aus der Rückbesinnung auf unsere naürlichen Lebensbedingungen zu erwarten. Die Evolutionstheorie bietet einen hinreichend rationalen und kulturinvarianten Rahmen für eine Berücksichtigung der natürlichen Ressourcen sowohl der Menschen als auch der Erde. Das Bemühen um eine europäische Verfassung, die Aussicht auf eine selbstkonsistente Weltverfassung hätte, könnte in einem Satz formuliert werden: Erstrebe das soziale Optimum zwischen dem Erhalt der natürlichen Lebensbedingungen und der Ausgestaltung der persönlichen Lebensmöglichkeiten der Menschen. Seit der Club of Rome 1972 mit den Grenzen des Wachstums eine weltweite Bewußtseinserweiterung in Gang setzte, hat der Mediziner und Naturkundler Hoimar v. Ditfurth immer wieder für ein Innehalten und Bedenken unserer natürlichen Lebensvoraussetzungen argumentiert. Die Trilogie seiner didaktisch brilliant geschriebenen Naturgeschichte aus den 1970er Jahren ist nach wie vor lesenswerte Populärwissenschaft in aufklärerischer Absicht. Von den Kindern des Weltalls über den Wasserstoff, der am Anfang war, bis hin zu der Einsicht, daß der Geist nicht vom Himmel fiel, reicht der Bogen v. Ditfurths. Das Leben auf der Erde beginnt mit den kosmischen Bedingungen, die sich hier einstellten und uns gleichsam zu Kindern des Weltalls machten. Die Fusion von Wasserstoff zu Helium in der Sonne liefert dabei den stetigen Energiestrom, der zur Ausgestaltung der vielen Lebensformen in unserer Biosphäre führte. Und das Verständnis des Lebens als eines erkenntnisförmigen Prozesses macht schließlich in natürlicher Weise die Herausbildung von Geist als Struktur in den Nervensystemen der Lebewesen nachvollziehbar, die den Sinnesorganen nachgewachsen waren. Dieses detaillierte Verfolgen des Herauswachsens von Strukturen nach dem Prinzip von Differenzierung und Zusammenschluß im Modell der Ebenen und Krisen ordnet den Menschen in die Naturgeschichte ein und trägt zur Überwindung seiner ,,Naturvergessenheit`` bei. In seiner Lebensbilanz hat v. Ditfurth 1989 die drei Welten der natürlichen Entwicklung, der Menschheitsgeschichte und des persönlichen Erlebens zu integrieren vermocht. Das macht seine Innenansichten eines Argenossen auch literarisch interessant. In ständiger Reflexion umkreist er die Bedingungen und Möglichkeiten seiner Existenz; beginnend mit der Geburt, dem Erwachen des Bewußtseins in Verbindung mit der Hirnentwicklung über das Erleiden des NS-Regimes aus dem Weltbild der Neandertaler bis in den Rausch der Freiheit einer offenen Welt vor dem kosmischen Hintergrund eines expandierenden Universums.

Hoimar v. Ditfurth hat sich die Form der Autobiographie zunutze gemacht, um sein Erleben und Denken im sozialen, irdischen und kosmischen Zusammenhang zu reflektieren. Der norwegische Philosophie-Lehrer Jostein Gaarder hat in der Form des Bildungsromans die Philosophiegeschichte von der Antike bis ins 20. Jahrhundert hinein nacherzählt. Sein Roman Sofies Welt erschien erstmals 1991 und ist didaktisch so geschickt konstruiert, daß sich die Leserinnen weltweit in der selbstbezüglichen Struktur wie durch ein geistiges Abenteuer lesen konnten.

Die faszinierenden Verwicklungen der Selbstbezüglichkeit sind es auch, denen der amerikanische Physiker Douglas Hofstadter in seinem brillianten Sachbuch Goedel, Escher, Bach nachging. Dabei wählt er als Auftakt die Paradoxie des Kreters Epimenides, von dem der selbstbezüglich-widersprüchliche Satz überliefert ist: Alle Kreter lügen. Hofstadter verfolgt das Leithema der Selbstbezüglichkeit von der Alltagssprache in die Logik und Informatik, geht in die graphische Kunst Eschers über und wendet sich der Musik Bachs zu, um abschließend mit der Replikation der genetischen Information das Leben selbst einschließlich seiner Einbettung in die Biosphäre und den Kosmos als selbstbezügliche Struktur eines eternal golden braid zu enthüllen. Bert Gaard hat Hofstadters endloses geflochtenes Band mit Sofies Welt verknüpft und in der analytischen Philosophie aufgelöst. Hofstadters Impetus im Verflechten der beiden Kulturen bleibt in den Rätseln der Welt erhalten. Zudem wird Sofies Welt um die Bewältigung der Grundlagenkrisen in Mathematik und Physik von der analytischen Philosophie bis hin zur kritischen Theorie fortgesetzt.

Die schon von Sokrates gepflegte Dialogform zur Vermittlung und Kritik von Wissen durch Reflexion in Frage und Antwort wurde wieder von Galilei praktiziert und ist in jüngster Zeit von den Physikern Josef M. Jauch und Harald Fritzsch aufgegriffen worden, um Die Wirklichkeit der Quanten und Die verbogene Raum-Zeit einem breiteren Publikum literarisch ansprechend zu präsentieren. Jauch schließt mit seinem zeitgenössischen galileischen Dialog an den Disput zwischen katholischen Kardinälen und Naturphilosophen an, wenn er die QM aus der Sicht eines Materialisten und eines Instrumentalisten diskutieren läßt. Der klassische Materialist verkörpert dabei den Dogmatismus der Orthodoxie, so daß Jauchs Sympathien auf der Seite der fortschrittlichen Instrumentalisten der Kopenhagener Deutung liegen,- die heute allerdings schon wieder als orthodox kritisiert wird. Die Überwindung des absoluten Raum- und Zeithintergrundes in der Newtonschen Physik durch Einsteins Dynamisierung der Raumzeit läßt Fritzsch durch die beiden Protagonisten selbst diskutieren und für den Leser Schritt für Schritt nachvollziehbar werden. Warum die von Sokrates, Galilei, Jauch und Fritzsch so vorteilhaft zur Diskussion neuen Wissens (oder eingestandenen Unwissens) eingeführte Dialogform nicht längst in den Schulen Verbreitung gefunden hat, bleibt eine Frage an die Pädagogen und Didaktiker.

Die Folgen des Erkenntnisfortschritts für die Vertreter des überholten Weltbildes hat der amerikanische Wissenschaftshistoriker Russell Mc Cormmach am Beispiel des Schicksals eines klassischen Physikers angesichts der Quantenrevolution 1982 zu einem Roman verarbeitet: Night Thoughts of a Classical Physicist. Mc Cormmach veranschaulicht detailgenau die existentielle Situation eines alten Physikprofessors an einer traditionellen deutschen Universität in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Um sich in den persönlichen, kulturellen und sozialen Kontext des wissenschaftlichen Fortschritts hineindenken zu können, sollte es noch viele weitere derart gelungene Darstellungen nicht nur eines in Resignation endenden alten Professors geben. Auch das rauschhafte Ungestüm der jungen Neuerer eignet sich für eine zugleich seriöse und phantasiereiche Romanform.

Das mysteriöse Treffen der beiden Physiker Niels Bohr und Werner Heisenberg im Sept. 1941 in Kopenhagen ist Thema des Theaterstückes des englischen Schriftstellers und Dramaturgen Michael Frayn: Copenhagen. Im Gegensatz zu den einseitig-moralisierenden künstlerischen Versuchen über die Physik von Brecht (Leben des Galilei), Dürrenmatt (Die Physiker) und Kipphardt (In der Sache J. Robert Oppenheimer) gelingt es Frayn, das politisch brisante Treffen zwischen den einst befreundeten Physikern aus der übergeordneten Nachschau heraus, in eine intellektuell anregende wie dramaturgisch spannende und zugleich minimalistische Inszenierung zu verwandeln. Die Vagheit der Erinnerung beider an das kurze Gespräch seinerzeit über die Möglichkeit des Baus einer Atombombe, erschwert unter den Bedingungen allgegenwärtiger Überwachung durch die Nazis, wird geschickt verknüpft mit der Komplementaritätsphilosophie Bohrs in Verbindung mit der Interpreation der Heisenbergschen Unschärferelation. Das Schlußwort hat Heisenberg: ... in the meanwhile, in this most precious meanwhile, there it is. The trees in Faelled Park. Gammertingen and Biberach and Mindelheim. Our children and our children's children. Preserved, just possibly, by that one short moment in Copenhagen. By some event that will never quite be located or defined. By that final core of uncertainty at the heart of things.

Eine kongeniale Verarbeitung des physikalischen Gehalts in der Romanform der Science Fiction gelang dem amerikanischen Physiker Gregory Benford in seinem Buch Timescape. Benford verknüpft in ebenso spannend-unterhaltsamer wie intellektuell herausfordender Weise die Viele-Welten-Interpretation der QM mit den Lebenswelten verschiedener sozialer Milieus einschließlich der beiden Kulturen und verfolgt die Konsequenzen von Inkonsistenzen in physikalischen Theorien in ihrer Auswirkung auf die Schicksale der Menschen durch Zeitreisen. Da die Konsistenz einer Theorie der Stabilität des beschriebenen Systems entspricht, können Inkonsistenzen in ihrer Auswirkung auf Lebewesen den Tod bedeuten.

Nach diesem kurzen Abriß einiger gelungener Verbindungen von Literatur und Wissenschaft in den Kunstformen der Biographie, des Romans, des Dialogs und des Dramas, möchte ich schließen mit der Hoffnung, daß zukünftig vermehrt wissenschaftlich-technische Gehalte in künstlerischen Formen ausgedrückt werden. Auch die alte Form des Lehrgedichts lohnt der Wiederbelebung, um die immer neuen Erkenntnisse in die großen Erzählungen der Menschheit zu integrieren - oder wenigstens persönlich erahnbar zu machen:

There was a young lady named Bright

Who travelled much faster than light.

She left home one day

In a relative way

And returned the previous night.

Diese anonymen Zeilen aus einem Aufsatz über Einstein, hätte Benford seiner Zeitschaft als Motto voranstellen können. Hans Magnus Enzensberger stellt seinen Seitenblicken in Poesie und Prosa einen Satz Nabokovs voran, der für sich selbst sprechen dürfte:

There is no science without fancy and no art without facts.


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Ingo Tessmann
6/9/2003