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Naturalismus und Kulturalismus

Albert Einstein und Thomas Mann trafen sich in dem Verständnis, Physik und Literatur jeweils als eine Verfeinerung bzw. Sublimierung des Denkens und Erlebens des Alltags aufzufassen. Einstein hat sein Verständnis aber nie zu einer Theorie ausgearbeitet, sondern im Rahmen seiner Wissenschaftsphilosophie nur angedeutet. Der methodische Konstruktivist Paul Lorenzen hat das Einsteinsche Wissenschaftsverständnis aufgegriffen und zu einer konstruktiven Wissenschaftstheorie ausgearbeitet. In seinem gleichnamigen Lehrbuch konstruiert er mit Blick auf eine durch Wissenschaftlichkeit zu verbessernde Bewältigung useres Lebensalltags nach dem Prinzip der methodischen Ordnung schrittweise und zirkelfrei im Anschluß an die Logik jeweils eine Theorie des mathematischen, technischen, politischen und historischen Wissens. Unter Verfeinerung des Alltags versteht er dabei vornehmlich die Normierung des Sprachhandelns und erst zur Begründung des technischen Wissens nimmt er auf handgreifliche Herstellungsverfahren bezug. Nach der elementaren Unterscheidung von Nominatoren zum Identifizieren und Prädikatoren zum Charakterisieren sowie der Formulierung von Prädikatorenregeln, Definitionen und logischen Regeln führt er zur Begriffsbildung ein Abstraktionsverfahren durch Äquivalenzklassenbildung ein und schlägt ein Ideationsverfahren durch Homogenitätsprinzipien zur Auszeichnung idealer Formen vor.

Konstruktive Begründungen sehen sich mit dem Problem des Anfangs konfrontiert, da es ihrem Anspruch nach Strenge und Nachvollziehbarkeit der methodischen Ordnung widerspricht, willkürlich mit Axiomen zu beginnen. Einen Ausweg aus der Misere bietet die dialektische Methode der historisch-faktischen Genese, die ihren Ausgang in der faktisch eingeübten Alltagssprache nimmt. Nach ersten Normierungen der vorgefundenen Sprachpraxis wird dann ein Stück weit die Kulturgeschichte und Handlungspraxis zu verstehen versucht. Diese Erweiterung des Sprachhorizonts wird sodann zur Verbesserung der Normierungen herangezogen, mit denen wiederum die nächste Horizonterweiterung möglich wird. In einem derart spiralig verlaufenden Reflexionsprozeß geht es um die historisch-kritische Aneignung der gesamten Kulturentwicklung der westlichen Zivilisation. Erst vor diesem Hintergrund kann von einer Bewußtwerdung der Gegenwartssituation gesprochen werden. Logisch-mathematische Selbstkonsistenzverfahren setzen die Dialektik der historisch-faktischen Genese in den Formalismen der Theorien fort.

Die Spiralbewegung der historisch-faktischen Genese kommt der Sublimationstheorie Thomas Manns nahe, wie Thomas Klugkist sie rekonstruiert hat. Ausgehend von der frühen Gleichsetzung von Ich, Welt und Werk in der Persönlichkeitsentwicklung Manns, sucht Klugkist die Sehnsuchtskosmogonie des Dichters vornehmlich im Geiste der Philosophie Schopenhauers zu verstehen. Die Dynamik der bereits erwähnten Dualismen vollzieht sich dabei ebenfalls spiralig vom gestörten Narzißmus, der seinen Ausgang im primären Narzißmus nimmt und ihn als Ziel der Relativierung gleichsam reflektiert, um wiederum seinen Ausgang auf der nächsten Stufe der absoluten Existenz zu nehmen. Diese triadische ,,Rückkehr-Struktur`` durchzieht nach Maßgabe des Schopenhauerschen Verständnisses vom Makrokosmos im Mikroskosmos nicht nur die Persönlichkeitsentwicklung Thomas Manns, sondern auch seine Werkentwicklung als Ganzes sowie das Einzelwerk des Faustus und die Kulturgeschichte der Deutschen. Die sublime Erfüllung der Sehnsucht ist erst nach der ,,Umkehr`` der ,,Rückkehr-Triaden`` möglich und in der Ruhe nach Abschluß des Werkes zu sehen - bis hin zum Nirwana nach dem Ende des Lebens selbst, mit dem die Welt verschwände, wenn sie nur Vorstellung wäre.

Im Faustus hatte Thomas Mann nach der Methode des strengen Satzes auch noch die Werke in der durch Zeitblom erzählten Welt Leverkühns im letzten Werk, der Faust-Kantate, aufgehoben wie zudem sein eigenes Werk und das der Deutschen. Wäre eine derartige ästhetisch ausgefeilte Poetik brauchbar für eine Logik zum Verstsändnis der Person Einsteins, seines Werkes und seiner Welt, dem Universum? Das wäre eine konkrete Frage nach der Vereinheitlichung von Kulturalismus und Naturalismus. Entspräche die Heimsuchung des Menschen durch die Natur der Kontingenz der Natur im Experiment? Der sublimen Erfüllung der Einsteinschen Sehnsucht im Werk käme die Gleichsetzung persönlicher Dezentrierung, theoretischer Invariantenbildung und kosmischer Dynamisierung der Raumzeit nach. Die Relativitätsprinzipien bildeten dabei die Invarianzforderungen, nach denen die Äquivalenzklassen der Bezugssysteme abstrahiert würden, ganz so wie es Paul Lorenzen für alle Wissenschaften vorgeschlagen hat. Und der Dialektik der historisch-faktischen Genese entsprächen die Selbstkonsistenzverfahren einer stabilen Dynamik unter weitgehend beliebigen Randbedingungen.

Insofern Persönlichkeitsstrukturen, gesellschaftliche Verhältnisse und der kosmische Zusammenhang Entsprechungen haben können, sind auch Beziehungen zwischen den beiden Kulturen denkbar, und zwar nicht nur allgemein, sondern bis in die einzelnen Werke der Künstler und Wissenschaftler hinein. Für Einstein waren seine Theorien Ausdruck der im Seienden verkörperten Vernunft. Eine derartige Metaphysik wird allerdings nicht durch die Handlungsperspektive des Alltags abgedeckt, jedefalls nicht auf den ersten Blick. Genauer betrachtet, folgte der weltweise Physiker nur der Tendenz zur Dezentrierung des Weltbildes in der Kulturentwicklung der westlichen Zivilisation. Nach Göttern, Kaisern und Päpsten wurde die Macht in den Pluralismus der Demokratien verteilt, in deren Wandel nur noch die Menschenrechte invariant blieben. Und Einsteins persönliche Dezentrierung nahm die impliziten Invarianten in der Elektrodynamik Maxwells und der Gravitationstheorie Newtons auf und verallgemeinerte sie zu den Relativitätstheorien, die in faszinierender Weise mit den experimentell erfahrbaren Strukturen des Universums im Einklang stehen.

Das Wirken der Gravitation im Rahmen der Riemannschen Geometrie nach Maßgabe der Einstein-Invarianz war dem Schaffen Leverkühns, erzählt von Zeitblom und reihentechnisch gestaltet von Mann analog. Und im Anknüpfen an die assoziative Kollagetechnik Döblins war mit der Blechtrommel eine literarische Analogie zur Preisgabe des klassischen Realismus durch die Rolle der Statistik in der Quantenmechanik als Grundlage der modernen Physik gegeben worden. Wie sinnvoll und weitreichend sind derartige Analogien? Und wie zwingend und frei von Willkür waren dabei die ART und der Faustus? Fischer greift die häufig von Geisteswissenschaftlern geübte Kritik am Wert von Wissenschaftler-Biographien auf. Danach sei ein Kunstwerk einmalig und nicht von seinem Urheber zu trennen. Wissenschaftliche Theorien dagegen seien allgemeines Kulturgut und damit eher mit der Technik vergleichbar, die sowieso entwickelt worden wäre; auf den einzelnen Erfinder oder Forscher käme es gar nicht an. Als Lebensbeichte ist der Faustus in der Tat einmalig;- das gilt aber genauso für die ART, die gleichsam Einsteins invariante Persönlichkeit veräußerlicht, ähnlich wie Mann die seine veräußerlichte, indem er zuvor die deutsche Kulturentwicklung verinnerlicht hatte. Thomas Mann griff die Faust-Legende aus dem Volksbuch auf und entnahm ihr den Satz, nach dem er seinen Faustus komponierte. Einstein entnahm der Maxwellschen Elektrodynamik die Lorentz-Invarianz und verallgemeinerte sie zur allgemeinen Kovarianz seiner ART. So wie Mann auf Schönbergs Dokekaphonie, konnte Einstein auf Riemanns Geometrie zurückgreifen und der Hilfe Manns durch den Musikphilosophen Adorno entsprach die Unterstützung Einsteins durch den Mathematiker Grossmann. Und Grass knüpfte kollagentechnisch im Rahmen des magischen Realismus seiner Zeit an den Faustus wie den Krull an. Literatur- und Wissenschaft sind gleichermaßen eingebunden in die Menschheitsgeschichte und Kulturenwicklung insgesamt und vom jeweiligen Stand der Kunst und Technik abhängig. Das läßt dem Künstler und Forscher gleichwohl genügend Spielraum für ihren kreativen Schaffensdrang.

Die Verbindung von Gravitation und Geometrie durch das Äquivalenzprinzip hat Einstein als den glücklichsten Gedanken seines Lebens bezeichnet, der ihm die sublime Erfüllung seiner Sehnsucht im Werk bescherte. Das Wesentliche am Durchbruch zur ART hat der Weltweise einmal in einem Satz ausgedrückt: Früher hat man geglaubt, wenn alle Dinge aus der Welt verschwinden, so bleiben noch Raum und Zeit übrig; nach der Relativitätstheorie verschwinden aber Raum und Zeit mit den Dingen. Raum, Zeit und Materie sind wechselseitig aufeinander bezogen und bilden ein energiebasiertes, dynamisches Wirkungsgefüge. Der Geltungsbereich der ART erstreckt sich über mehr als 40 Größenordnungen bei einer Genauigkeit von bis zu 14 Dezimalstellen.

Geltungsbereich und Genauigkeit unterscheiden Theorien von Romanen. Die Physik ist eine quantitative Experimentalwissenschaft, eine kulturelle Synthese aus Mathematik und Technik. Wenngleich auch die Physik in ihren Prinzipien qualitativ ist, dominiert dieser Aspekt eher die Literatur,- aber nicht nur. Denn der Geltungsbereich des Faustus erstreckt sich über 500 Jahre deutscher Kulturentwicklung seit Dürer, Luther und Paracelsus. Wie ,,genau`` trifft dabei der Weg der Verinnerlichung von der Reformation über das Preußentum und die Romantik im Geiste der Philosophie Schopenhauers und Nietzsches den Untergang des Deutschtums im NS-Faschismus? Und wie ,,genau`` sind dabei Pflichtgefühl und Gehorsamsbereitschaft aus protestantischer Ethik, der Willens-Philosophie Schopenhauers, dem Nihilismus Nietzsches sowie Mythologie und Leitmotivik des romantischen Musikdramas in ihrer kulturprägenden und politischen Wirksamkeit getroffen?

In der ART verbinden sich qualitative Schönheit und quantitative Wahrheit in der mathematischen Struktur und physikalischen Interpretation des Formalismus. Im Faustus bleibt die kulturgeschichtliche und politische Wahrheit deutlich hinter der literarischen Schönheit zurück. Das Ganze ist eher Philosophie, Musik und Pubertätserotik;- aber auf welch einem ästhetischen Niveau! Gleichwohl ist auch die ART sehr viel struktur- und folgerungsreicher als es allein ihre experimentell bestätigten Ergebnisse zuließen. Kosmologisch-technische Randbedingungen setzen der wissenschaftlichen Phantasie ebenso Grenzen wie der kulturell-politische Kontext dem literarischen Ausdruck. Thomas Mann hat sogar sein Gesamtwerk in einem Satz zusammengefaßt. So sagte er anläßlich seines 50. Geburtstages in der Tischrede: Wenn ich einen Wunsch für den Nachruhm meines Werkes habe, so ist es der, man möge von ihm sagen, daß es lebensfreundlich ist, obwohl es vom Tode weiß. Der Literat mußte (immer wieder) sein Triebleben sterben lassen, damit er zum Repräsentanten der deutschen Kultur hochleben konnte. Goethe hat dieses: Stirb und werde! des kreativen Menschen in seinem Gedicht Selige Sehnsucht ausgedrückt:

Und solang du das nicht hast,

Dieses: Stirb und werde!

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.

Ebenso mußten die Deutschen wiederholt ihre Volksseele sterben lassen, um als Zivilgesellschaft wieder auferstehen zu können. Und Einstein hatte sein alltägliches Gefühlsleben sterben lassen, um sich ganz dem lustbetonten Denken hingeben zu können. War er dabei nicht auch einen ,,Teufelspakt`` eingegangen - wie die Deutschen mit Hitler - als er den Brief zum Bau der Atombombe an den amerikanischen Präsidenten unterschrieb? Aber der Teufel läßt sich wohl nur mit dem Belzebub austreiben ...

Der von Einstein 1945 in einer Tischrede zu seinem ,,Nachfolger`` gekürte Wolfgang Pauli hatte darunter gelitten, in der Wissenschaft mitzuarbeiten, in der Atom- und Wasserstoffbomben entwickelt wurden. Aus seiner Therapieerfahrung bei C.G. Jung heraus, hatte er sogar versucht, die Physik durch eine ,,Hintergrundphysik`` zu ergänzen. Seine von Herbert van Erkelens nachgezeichnete ,,innere`` Biographie der Träume und ihrer Deutungen verbindet die Mythologie der Archetypen mit der Wissenschaft der Quanten, d.h. Tiefenpsychologie mit Quantentheorie. In Verbindung mit dem Buch der Wandlungen (I Ging) und dem Symbol (Tai-Gi) für den in Licht und Dunkel geteilten Kreis, hat Pauli einen poetischen Zusammenhang mit der Überwindung des Welle-Teilchen-Dualismus in der QM formuliert:

Quantenmechanik und I Ging

Dein Name ist dies fremde Zeichen

Wie konnt' es mich von fern erreichen?

Die Matrix ist mir I

Sein Denken ist ein malend Schauen

Die Well' entspricht Tai-Gi

Was gibt ihm sein naiv Vertrauen?

Was du geschrieben, kommt von dort.

Die Worte spinnen sich mir innen fort.

Ein neues Licht, zu denken wag' ich's kaum,

Der fremde Autor ist mein eigner Traum.

Es sind die in der Matrix formulierten Übergangs-Wahrscheinlichkeiten zwischen den Quantenzuständen, die das Wellenmuster der Interferenzen aus Licht und Schatten verstehen lassen. D.h. die Wahrscheinlichkeitsnäherung macht das Wellen- und Teilchenbild kompatibel. Und so ist es ganz allgemein möglich, mit einer statistischen Theorie, die jeweils reine Zufalls- und streng-deterministische Prozesse als Grenzfälle enthält, zwischen Naturalismus und Kulturalismus zu vermitteln. Dabei steht mit Peter Janich der in einer propositionalen Sprache als Abblild der Welt beschriebene naturgesetzlich reagierende Organismus der zwecksetzungsautonomen Person mit ihrer auffordernden Sprache der Kooperation gegenüber. Der Kulturalist Janich sucht einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen postmoderner Beliebigkeit und klassischer Methodenstrenge in einer erneuten Wende - nach linguistic turn und pragmatic turn - zum methodischen Kulturalismus. Die Handlungsperspektive im kulturellen Kontext verspricht zwar eine methodisch strenge Rekonstruktion sowohl der Geistes- als auch der Naturwissenschaften, erreicht aber nicht das weltweise Reflexionsniveau nach der im Seienden verkörperten Vernunft bzw. der wachsten Empfindung von Lust und Weh in Allsympathie mit dem ewigen Entstehen und Vergehen. Nietzsche hatte es im Zarathustra poetisch auszudrücken vermocht und Mahler in seiner symphonischen Kosmogonie der Erdgeschichte komponiert:

O Mensch! Gib acht!

Was spricht die tiefe Mitternacht?

Ich schlief, ich schlief!

Aus tiefem Traum bin ich erwacht!

Die Welt ist tief!

Und tiefer als der Tag gedacht!

Tief ist ihr Weh!

Lust - tiefer noch als Herzeleid!

Weh spricht: Vergeh!

Doch alle Lust will Ewigkeit!

Will tiefe, tiefe Ewigkeit!

Dieser kosmisch-religiösen Ahnung einer verborgenen, überpersönlichen Ordnung im Universum, mag sie nun als Allsympathie oder Weltseele malend erschaut werden, sollte wissenschaftlich möglichst nahe gekommen werden, ohne in die Mythologie der Tiefenspychologie und Religion abzugleiten. Einen interessanten Versuch dazu hat der Physiker Gerhard Mack in seiner Theorie des Lebendigen gemacht, die er als konstruktiven Beitrag zur kulturübergreifenden Wiedervereinigung der Wissenschaften versteht. Nach dem Vorschlag zur kulturalistischen Wende ist Macks Ansinnen einer interdisziplinären Systemtheorie eher als naturalistische Vereinigung der künstlerisch-geisteswissenschaftlichen mit der technisch-naturwissenschaflichen Kultur anzusehen. Beide Ansätze möchte ich kurz vorstellen.

Dem Anspruch nach sucht der methodische Kulturalismus als wissenschaftliche Philosophie den postmodernen Kulturrelativismus ebenso zu überwinden wie den klassischen Naturalismus. Im Anschluß an Einsteins Relativitätstheorie geht es um die Auszeichnung von Invarianten auch in den Kulturwissenschaften. Thomas Mann hat seine Vorstellung von einem sozialen Humanismus für die Weltgesellschaft nicht ausformuliert. Wie Klugkist herausgearbeitet hat, blieb er in dem durch Schopenhauers Mitleidsethik bestimmten pessimistischen Humanismus befangen. Und Einstein hat seine Invariantentheorie nicht auf die Kulturen übertragen, nur implizit in der Haltung des Weltweisen verkörpert wie er sie ja allgemein im Seienden verkörpert sah. Die methodischen Kulturalisten Hartmann und Janich knüpfen an den Instrumentalismus der Naturwissenschaften an. Jeden methaphysischen Fallstricken ledig, verstehen sie Theorien nicht als strukturisomorphe oder ädaquate Bilder der naturgesetzlichen Welt, sondern als empirisch bewährtes technisches Bewirkungs- und Prognosewissen. Das Widerfahrnis des Scheiterns ist ihre gleichsam humanistisch-existentielle Grunderfahrung des noch so banalen Alltags. Diese Grundlage des Gelingens und Scheiterns von Handlungen scheint mir dabei nicht weit entfernt vom Grundmotiv der Heimsuchung im Werk Thomas Manns. Der kulturalistische Versuch läuft darauf hinaus, alles Wissen auf Handlungserfolg und Mißerfolg zurückzuführen bzw. aus diesem zu begründen. Das wissenschaftliche Wissen führen Hartmann und Janich auf die Wahrheit des Erfolges im Handeln zurück und entgehen so den Extremen vollständiger Verifikation und relativistischer Beliebigkeit. Leitvorstellungen ihres Kulturalismus sind ihnen Kochrezepte und Bedienungsanleitungen, die sie zum Prinzip der methodischen Ordnung hochstilisieren. Denn im Rahmen des zweckrationalen Zusammenhangs von Sprach- und Tathandeln kommt es für die erfolgreiche Realisierung vieler Zwecke auf die Einhaltung einer bestimmten Reihenfolge von Handlungsschritten an. Wichtig dabei ist ihnen die Anbindung des Sprechens an das Handeln; denn primär in der Lebensbewältigung der Menschen ist das Tun und nicht bloß das Reden darüber.

In seinem Aufsatz zur Struktur technischer Innovationen geht Janich dem Primat des Tathandelns folgend von der praktischen Bewährtheit der Technik aus und sieht in der Technikentwicklung ein Modell für das Erreichen von Kulturhöhen. Gegenüber den sprachfixierten Philosophen hebt er hervor, daß die gesamte Geschichte der messenden und experimentierenden Wissenschaften nur eine monoton steigende Zunahme von Zahl und Genauigkeit der meßbaren Parameter kennt. Diese Kontinuität der Entwicklung und Verbesserung von Geräten gilt ihm als Maßstab transkultureller Zweckrationalität. Der jeweilige Stand technischen Verfügungswissens bestimmt dabei die Kulturhöhe. So wie das Wissenschaftsniveau der Physik nach Einstein durch den Verallgemeinerungsgrad der Invarianzforderungen einer Theorie bestimmt wird, geht es Janich bei der Bestimmung der Kulturhöhe um den Verallgemeinerungsgrad im Stand der Technik. Der kritisch-setzende literarische Geist steht damit weiterhin der physikalischen Theorie als Bild der im Seienden verköperten Vernunft gegenüber. Die Verfeinerung bzw. Sublimierung der Lebensbewältigung in die Theorie bzw. den Roman liefert gleichwohl eine gemeinsame Basis im Widerfahrnischarakter des Handelns.

Der Physiker Gerhard Mack hat eine kulturübergreifende Theorie des Lebendigen gewagt, indem er Einsteins Prinzipien ins Extrem führte. Dabei ist ihm the absence of a priori numerical structure a way to push coordinate independence to the extreme. Mit Blick auf eine Sprache der Gedanken im Rahmen seiner interdisziplinären Systemtheorie geht er von folgendem Pre-Axiom aus:

The human mind thinks about relations between things or agents.

Die Theoriebildung beginnt dann in zwei Schritten:

1.
Man benennt Dinge (oder Sachverhalte)
2.
Man macht Aussagen über benannte Dinge.

Diese beiden Alltagsschritte werden in den Naturwissenschaften zu zwei Arten von Naturgesetzen verfeinert:

1.
Einschränkungen an den Zustand eines Teils der Welt zu einem (beliebigen) Zeitpunkt.
2.
Aussagen über die Dynamik, d.h. über Veränderung des Zustands im Lauf der Zeit.

Nach dem Vorbild physikalischer Theorien, in denen sich Selbstkonsistenzverfahren bewährt haben, die eine Berechnung der Dynamik unter gegebenen Einschränkungen erlauben, schlägt Mack die formal-kategoriale Definition eines Systems vor. Danach besteht ein System aus Objekten mit gerichteten Beziehungen zwischen ihnen, die folgende Eigenschaften haben können: Verknüpfung, Adjunktion, Identität und Lokalität. In dieser einfachen Sprache der Gedanken lassen sich bereits drei Haupt-Typen von Aussagen machen:

1.
Verknüpfte Beziehungen können gleich der Identität sein.
2.
Beziehungen können per Adjunktion entgegengesetzte Beziehungen haben.
3.
Es existieren Eichinvarianten.

Im Anschluß an die mathematische Darstellungstheorie ist ein konstruktiver Beweis des folgenden Satzes möglich:

Jedes System besitzt eine treue Darstellung als Kommunikationsnetzwerk.

In der Physik sind Eichtransformationen in der Regel einer Transformation des ursprünglichen Systems äquivalent. Für die Linguistik hat der analytische Philosoph Quine auch eine Eichtransformation bestimmen können: Die Gesamtheit der Sätze einer Sprache eines Sprechers läßt sich so permutieren bzw. auf sich selbst abbilden, daß

1.
die Gesamtheit der Dispositionen des Sprechers zu verbalem Verhalten unverändert bleibt und daß
2.
die Abbildung dennoch keine bloße Korrelation von Sätzen mit äquivalenten Sätzen ist. Zahllose Sätze können drastisch von denen abweichen, die ihnen jeweils zugeordnet sind, und doch können diese Divergenzen einander systematisch so ausgleichen, daß das Gesamtmuster der wechselseitigen Verknüpfungen von Sätzen mit Sätzen und mit nichtverbalen Reizen erhalten bleibt.

Daraus folgert Mack: Die ,,Disposition zu verbalem Verhalten`` in Gegenwart eines nichtverbalen Reizes ist des Linguisten invariante Observable, die als beobachtbare Größe die Gesamtstruktur des Systems unverändert läßt, ganz so wie in der physikalischen Theorie. Auch die ART kann in die Gestalt einer Eichtheorie gebracht werden, zu deren Besonderheiten es gehört, daß zwar ihre Grundgleichungen lokal sind, sich aber nicht allgemein als lokale Beziehungen für beobachtbare Größen formulieren lassen. Die lokalen Beziehungen selbst sind nicht beobachtbar, ohne ihre Lokalität zu zerstören.

Zur Systemstruktur gehört auch eine Dynamik . Mack definiert als Arten der Veränderung: Wachstum, Bewegung, Tod und Kognition. Als Anwendungsbeispiele wählt er die Elektrodynamik, die Kopiervorgänge bei der Replikation der genetischen Information und die Reproduktion der natürlichen Sprachen. Seine Sprache der Gedanken identifiziert er dabei mit der von Chomsky angenommenen universalen Grammatik.

Im Vergleich mit Janichs Ansatz eines methodischen Kulturalismus fällt auf, daß Mack seine Sprache der Gedanken auf keine im Lebensalltag zu bewältigende Handlungssituation bezieht. Sein Ansatz ist von vornherein situationsinvariant gedacht. Nicht der an materiellen Herstellungsverfahren orientierte Stand der Technik wird rekonstruiert, sondern die ideelle Auszeichnung einer eichinvarianten Systemstruktur steht im Vordergrund. Ausgehend vom Tathandeln rekonstruiert Janich die Experimentalphysik und Mack strukturiert aus dem Sprachhandeln die theoretische Physik. Den Zusammenhang zwischen Handlungs- und Systemtheorie stellen gleichwohl das Ideations - und Abstraktionsverfahren her. Ist der Stand der Technik bei Janich Maßstab der Kulturhöhe, wäre es bei Mack der Abstraktionsgrad der Invarianz. Indem er die background independence der Einstein-Invarianz ins Extrem über den numerischen Bereich hinaus treibt, markiert die logische Struktur der ART damit nach wie vor den Stand der Kulturhöhe in der westlichen Zivilisation. Im weltweit und kulturübergreifend funktionierenden GPS sind beide Maßstäbe zur Deckung gebracht worden. Und so ist zu hoffen, daß es einem Philosophen gelingen möge, Handlungs- und Systemtheorie in einem methodisch nachvollziehbaren und empirisch überprüfbaren Rahmen zu vereinheitlichen. Innerhalb der Mackschen Sprache der Gedanken ist im Anschluß an Einstein der Pfad von der Erlebnisinvarianz über die ART bis hin zur Quantengravitation zu rekonstruieren und aus dem Werk Manns heraus der Weg von der Sprachdisposition über den Faustus bis hin zum literarischen Geist der westlichen Zivilisation auszugestalten. Die jeweilige persönliche Handlungsperspektive des Physikers wie des Literaten kann dabei im Rahmen des methodischen Kulturalismus nur der Anfang sein, der zugleich methodisch-streng und kühn-visionär in der Sprache der Gedanken, komponiert nach Invarianten, zu einer Literatur führen könnte, die Wissenschaft in literarischer Gestalt wäre.


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Ingo Tessmann
6/9/2003