Niels bedachte die Konsequenzen seiner letzten Mails. Die Nichtlokalität und das Beamen waren gesicherte Fakten der Mikrowelt. Die vielen Welten eine empirisch prüfbare Hypothese. Wenngleich er nach wie vor zum Realismus neigte und gute Gründe dafür hatte, bildete seine literarische Existenz in Sofies Welt ein Kuriosum. Wer dachte hier eigentlich was? Der Autor, die Geschichte selbst oder er? Da waren wieder die drei Welten! Oder war alles ein Gewebe von Sprache? Aber der Drang zum Essen und Trinken, die Ekstase des Orgasmus, die Pein des Zahnschmerzes; das waren doch echte Erlebnisse ... oder? Ihm kam das Gedankenexperiment Putnams in den Sinn: Angenommen unser Gehirn spiegelte uns alle Erlebnisse einfach vor? Und unser wahres Sein beschränkte sich auf ein isoliertes Gehirn in einem Tank mit Nährlösung. Wie könnten wir unterscheiden, ein Mensch oder bloß ein präpariertes Gehirn zu sein?

Schweißgebadet schreckte er hoch. Im fahlen Licht der Campusbeleuchtung schaute er beruhigt zur Seite. Hilde schien nichts bemerkt zu haben. Ruhig atmend lag sie da. Sein Blick überstrich ihre Pfirsichhaut und kam auf den zarten Knospen zur Ruhe. Woher rührte nur dieser Reiz ... Seufzend drehte sie sich von ihm weg und entblößte dabei ihre weibliche Landschaft. Sein Schwanz härtete sich, ob er es wollte oder nicht. War das nur Illusion? Er ertastete ihr Gewächs und begann sanft mit ihrem Kitzler zu spielen. Leckend und saugend spürte er ihre Bereitschaft, ob sie es wollte oder nicht. Als er eindrang, erwiderte sie rhythmisch seine Stöße ... I'm the fontain of love schrie Björk in ihm und zuckend ergoß er sich in ihr. Aneinandergeschmiegt blieben sie liegen. Die Nachwirkung der Endorphine ließ ihn verzückt zerfließen ...

Hilde war einfach wieder eingeschlafen. Oder war sie gar nicht richtig wach geworden? Waren es die Körper, die sich fanden? Hätte hier statt seiner irgendjemand hereinkommen können? ... Jedenfalls waren die Sinne nicht auf Sprache reduzierbar! Wie die Sprachphilosophen wohl darauf kommen konnten? Waren sie vielleicht Asketen wie die Religionsfanatiker? Wenn er es recht bedachte, war es allerdings die Sprache, die Putnams Gedankenexperiment widerlegte. Die Sinne täuschten einem die weibliche Höhle auch ohne ihr Vorhandensein vor. Deshalb unterschied sich die Selbstbefriedigung nicht wesentlich von der Paarung. Aber die Selbstreflexion, die Ebenensprengung war ein symbolischer Akt. Der Gedanke darüber, bloß ein Gehirn in einem Tank zu sein, widerspricht dem Inhalt des Gedankens. Gerade weil wir uns fragen können, vielleicht bloß ein Gehirn in einem Tank zu sein, sind wir kein Gehirn im Tank. D.h. ein Gehirn im Tank entwickelt keine Doppelstruktur der Sprache. Wie sollte es auch? ... Erstaunt spürte er, wie ihre Hand seinen weichen Wurm umschloß und zu massieren begann ...

Sofie dachte nicht ohne Bedauern, daß die Sommerschule mit der letzten Stunde schon wieder vorbei war. Hatte sie denn den Durchbruch ins reale Leben geschafft? Vielleicht hatte sie ihn gerade dadurch erlangt, weil sie lange nicht mehr daran gedacht hatte. Reflexion unterbricht den Bewußtseinsstrom. Verhalten das Erleben. Nur die Erinnerung überbrückt die Unterbrechungen. Aber was bleibt warum im Gedächtnis? Was schafft die Kontinuität zwischen den Erinnerungsfetzen? Bin ich noch Sofie Amundsen aus Norwegen? Die Übergänge zwischen den Qauntenzuständen folgen der Schrödingergleichung. Will ich aber feststellen, in welchem Zustand sich ein Atom gerade befindet, kollabiert die Eigenentwicklung. Das ist ganz so wie beim Erleben. Die mit dem Kollaps verbundene Unschärfe ist nicht zu vermeiden. Sie ist der Preis für die Selbstbezüglichkeit bzw. Selbstreflexion. In der gleichen Situation befindet sich auch ein Autor mit sich selbst, aber nicht gegenüber seinen Romanfiguren. Wie wohl der Leser darüber denkt? Oder Bert? Oder Jostein? Oder der Major? Wer dachte hier eigentlich?

Mathematische Gruppen sind hinsichtlich ihrer Verknüpfungen abgeschlossen. Gleichwohl lassen sich in ihnen Operationen definieren, die aus ihnen heraus führen. Daß wir einen Rahmen gesprengt haben, merken wir aber erst, wenn wir herausgetreten sind. Eine Rückkehr ist unmöglich. Hierin liegt eine eigentümliche Asymmetrie. Wer eine Bewußtseinsstufe sprengt, hat eine Tür ohne Wiederkehr durchschritten. Das Leben, die Evolution, die Naturgeschichte schlechthin ist eine Folge von Differenzierungen und Zusammenschlüssen. Differenzierungen sprengen Rahmen, Zusammenschlüsse schaffen neue.

Hilde hatte sich auf ihn gesetzt und war nach der letzten ekstatischen Streckung mit einem Schrei auf Niels zusammengesunken. Erschöpft war sie eine Weile liegengeblieben. Im Schweiß der Lust glitt sie von ihm ab auf das kühl-feuchte Laken. Der Vereinigung folgte die Trennung. Hildes Gedanken verschränkten sich mit denen Sofies. Entsprach der im Hilbertraum abstrahierten und im Meßaufbau ideierten Wellenfunktion nicht subjektiv die Emotion? Schemenhaft erschienen die Umrisse einer Tabelle. Die Kontrastverschärfung ihres inneren Auges schälte sie klar heraus:

Denken Abstraktion Tatsachen objektive Welt
Motorik Ideation Normen soziale Welt
Sensorik Emotion Erlebnisse subjektive Welt

Werden die Symbole als von den Sinnen abgelöst gedacht, fingieren wir die Welt der Sprache. Wir erleben die Welt durch Emotion, normieren sie durch Ideation und versachlichen sie durch Abstraktion.

Niels versank mit dem Dreieck des Weibes vor Augen ins Koma der Verzückung. Die wippenden Zitzen und der über seinen Stamm gleitende Venushügel verschwammen zur Madonna. Der Puls des Lebens pochte in Kopf und Schwanz. Die Achterbahnfahrt durch den Tunnel der Liebe mündete in der grell roten Explosion eines Blutsturzes. Er verströmte sich ins taufrisch grüne Gras und erlag dem Saugen des hungrigen Fleisches. Sein ganzer Körper schien milchig-weiß zu zerfließen. Rüssel lutschten ihn aus. Als er sah, woher sie kamen, hielt er sich entsetzt die Hände vors Gesicht und krümmte sich zusammen. Schweißnaß fuhr er auf und erblindete im gleißenden Hell der Morgensonne. Stöhnend fiel er ins Kissen zurück. Langsam registrierten seine Sinne wieder die Außenwelt. Wasser rauschte und Dampf wallte aus der Dusche heraus. Mit verkniffenen Augen schaute er sich um. Er befand sich nicht an der Tafel zum Naked Lunch, sondern in seinem Zimmer. Wenn er nicht in Berkeley war, dann handelte es sich um eine gelungene Kopie, dachte er in Erinnerung an eine Szene aus 2001. Hilde war bereits unter der Dusche. Alles schien in Ordnung. Es war nur ein Traum. Er setzte sich auf, gähnte, rieb sich die Augen, reckte sich, daß es krachte. Beschwingt sprang er auf und ging ins Badezimmer. Kein Monster stand unter der Dusche, sondern sein süßes Mädel. Eng aneinander geschmiegt genossen die beiden das fließend-warme Naß.

,,Wir haben ein Stück weit den Erlanger Weg zum Wissen verfolgt``, leitete Niels die nächste Zusammenkunft ein. ,,Dem Prinzip der methodischen Ordnung folgend, gelangten wir von den Einwort-Sätzen bis hin zum Ideationsverfahren. Die Nachvollziehbarkeit regelgeleiteter Verfahren ist das Credo der methodischen Konstruktivisten. Dabei ist nachvollziehbar, was konstruierbar ist. Diesen technischen Aspekt des Wissens hatten die Dialektiker allerdings als Kehrseite der Aufklärung kritisiert. Im Rahmen einer Konsenstheorie versuchen die Frankfurter einer Verengung des Wahrheitsanspruchs auf Wissen dadurch zu entgehen, indem sie ihren Konsens nicht nur an Wahrheit orientieren, sondern zudem an Wahrhaftigkeit, Richtigkeit und Verständlichkeit anknüpfen. Das konsenstheoretische Verständnis von Wahrheit erstreckt sich nicht nur im engeren Sinne auf das, was Sprachanalytiker natürliche Tatsachen nennen, sondern auch auf sogenannte institutionelle Tatsachen. Nehmen wir folgende Sätze als Beispiele: Pflanzen sind Lebewesen (eine natürliche Tatsache). Soldaten sind Mörder (eine institutionelle Tatsache). Wahrheit wird damit kulturrelativ. Die Eigenheiten vorgefundener Dinge (Pflanzen) werden behandelt wie menschengemachte (Soldaten). Zu diesem Extrem gelangt auch die radikale Variante des Konstruktivismus, die Realität schlechthin für konstruiert hält. Der methodische Konstruktivismus läßt die Option offen, weiterhin zwischen natürlichen und institutionellen Tatsachen dadurch unterscheiden zu können, daß erstere nicht nur abstrahiert, sondern auch ideiert werden müssen. D.h. die Existenz eines Realisierungsverfahrens kann als Unterscheidungskriterium dienen. Kommen wir vom Wissen zum Verstehen, von der Objektivität zur Subjektivität. Frankfurter und Erlanger eint ja die Anerkennung des normativen Fundaments aller Beratungen bzw. Diskurse, seien sie nun theoretischer, hermeneutischer oder praktischer Natur. Das Vernunft- oder Moralprinzip ist grundlegend: Ohne die Bereitschaft der Beratungsteilnehmer, ihre Subjektivität zu transzendieren, aus ihrer subjektiven Welt gleichsam herauszutreten, ist kein Philosophieren sinnvoll. Wie ist dieser Übergang durch Reflexion dem Subjekt möglich? Jeder lebt in seiner Welt. Wie sprenge ich den Rahmen, in dem jeder denkt? Ein Motiv dafür ist der Problemdruck, verbunden mit der Aussicht, daß es gemeinsam besser geht. Wenn wir uns an Wittgenstein erinnern, geht es um den Wandel einer Lebensform. Nur aufgrund des Wandels unserer Lebensform sind wir in der Lage, ein neues Sprachspiel zu spielen.``

,,Wenn wir an die natürliche Entwicklung der Individuen denken``, fiel Franz ein, ,,dann gibt uns doch die Pubertät ein schönes Beispiel dafür, wie die kindliche Lebensform überwunden werden kann. Ausgelöst und reguliert durch genetisch bedingte Änderungen des Hormon-Stoffwechsels, werden einerseits die Eltern und Lehrer kritisiert, aber zugleich im Rausch der Verliebtheit blind den Objekten der Begierde gefolgt.``

Franzens Blick traf sich mit dem Sofies. Leicht errötend hatte sie den Eindruck, durchschaut worden zu sein. Wie war sie überhaupt in diesen Kurs gelangt? Wenn Chris nicht Janet verfallen wäre, säße sie jetzt überhaupt nicht hier, sondern in der Klasse zu den Jugendbewegungen. ,,Entscheidend sind Verhaltensänderungen oder das Tathandeln``, pflichtete sie ihm bei. ,,Ich las z.B. gerade in einem Buch Watzlawicks, daß er einem Paar mit Sexualstörungen riet, einfach `mal die Schlafseite im Bett zu wechseln. D.h. der bisher an der Wand schlafende Partner sollte sich an die Außenseite legen. Oder das Bett sollte überhaupt erst an eine Wand gestellt werden, damit z.B. der Mann über die Frau steigen mußte, um sein Lager zu erreichen ... `` Allgemeine Heiterkeit breitete sich aus. Nach einer Weile fuhr Sofie fort: ,,Bei einigen Paaren haben solche scheinbar belanglosen Verhaltensänderungen wahre Wunder bewirkt. Andere Kleinigkeiten, wie der Einsatz von Parfum, das Drapieren in Reizwäsche oder das Mieten eines Hotelzimmers, waren therapeutisch ähnlich erfolgreich.``

,,Den intellektuellen Typ oder Ökofreak vermag Reizwäsche natürlich weniger anzutörnen als das gemeinsame Lesen im Bett``, merkte Hilde lachend an und warf Niels verliebte Blicke zu.

,,Nun, Verhaltensänderungen in Krisensituationen können sich auch ganz anders auswirken``, meldete Pieter sich zu Wort. ,,Es kommt immer darauf an, seinem Wesen zu folgen und nicht weiter im Schein der Illusion zu leben. Die Partnerprobleme beginnen ja meist, wenn der Rausch der Verliebtheit ausgekostet ist und beide bemerken, daß sie jeweils nur dem Wunschbild ihres Partners entsprachen. Was dann? Viele trennen sich einfach oder warten darauf, sich erneut verlieben zu können. Andere schaffen sich Gemeinsamkeiten, wie Hobbies, Reisen oder Kinder. D.h. die Illusionen lassen sich eine Weile länger durchhalten. Meine Frage lautet daher: Wie können wir die Menschen einer Gesellschaft in die Lage versetzen, ihr Wesen auszuleben und nicht im bloßen Schein unterzugehen?``

,,Du meinst im Schein der Ideologien, der falschen Bedürfnisse?`` fragte Franz ironisch und spitzte zu: ,,Du bist selbst einer Illusion verfallen; denn wie sähe eine ideologiefreie Gesellschaft aus? Was sind die wahren Bedürfnisse?``

,,Der therapeutische Diskurs orientiert sich am Ideal der Freiheit. Wir haben also allen Bedürfnissen zwanglos die Chance zur Äußerung zu geben ... ``

,,Wo das hinführt, hat uns in abschreckender Weise die Kommune I vorgeführt``, unterbrach Franz.

,,Sie war sicher über's Ziel hinausgeschossen``, räumte Pieter ein, ,,gleichwohl bleibt es ein sinnvolles Anliegen, in Familie und Wohngemeinschaft allen Mitgliedern die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung einzuräumen und alle Meinungen zunächst einmal ernst zu nehmen und nicht gleich unterzubuttern, weil sie vordergründig absurd erscheinen.``

,,Gerade Kinder sind scharfe Beobachter und Kritiker elterlichen Verhaltens und Handelns``, meldete Nell sich zu Wort. ,,Man muß ihnen nur den nötigen Freiraum lassen und ihre Kritik ernsthaft bedenken. Wenn z.B. Eltern ihrem Kind unter Hinweis auf den Umweltschutz das Autofahren vorwerfen, selbst aber zweimal jährlich eine Flugreise unternehmen, machen sie sich unglaubwürdig. Genauso verlogen ist es, selbst Alkohol zu trinken, anderen aber den Genuß von Shit zu verbieten. Widerspüche und Paradoxien sprengen nicht nur das Denken, sondern auch das Handeln. Die Lebensformen bedürfen in gleicher Weise der Konsistenz wie die Sprachspiele. Hier schließt sich der Kreis: Eine konsequente Lebenspraxis hat auch konsistente Sprachspiele zur Folge, nicht umgekehrt. Denn mit Marx bestimmt noch immer das Sein das Bewußtsein. Und genau das zeigen uns in entwaffnender Offenheit die Kinder. Sie achten weniger darauf, was wir alles so daherreden. Vielmehr ist es unser Tun, woran sie sich halten. Denken und Handeln, Bewußtsein und Sein sollten in der dialektischen Spirale von Erwartung und Erfahrung immer wieder in Einklang gebracht werden.``

,,Mit Deinem Hinweis auf die Dialektik können wir zum praktischen Diskurs übergehen``, hob Niels wieder an. ,,Der Erwartungs/Erfahrungs-Kreislauf reguliert alles Handeln ... ``

,,... und Problemlösen``, ergänzte Franz.

,,Im praktischen Beratungsteil wird er explizit gemacht. So sehen das jedenfalls die Dialektiker. Aber auch die Konstruktivisten berufen sich neben dem Vernunftprinzip auf das Kulturprinzip der normativ-faktischen Genese. Nach Ansicht der Frankfurter basiert es allerdings alle Beratungsteile. Denn aus den Spuren des unterdrückten Dialogs gilt es das Unterdrückte zu rekonstruieren: in Kunst, Moral und Wissenschaft gleichermaßen. Wie kommen wir von unseren individuellen Begehrungen zur Formulierung eines für alle einsichtigen Willens? Indem wir uns am Ideal der Gleichheit orientieren. Privilegien sind danach nur schwer zu rechtfertigen. Denn was für den einen gelte, müsse für alle gelten können. Dieses hehre Prinzip der Aufklärung hat sich im Zuge des Bevölkerungswachstums allerdings selbst ad absurdum geführt. Ersichtlicherweise können nicht sechs Milliarden Menschen die gleiche pro Kopf Energiemenge verschwenden wie die US-Amerikaner. Und im nächsten Jahrhundert dürfte sich die Weltbevölkerung mindestens nochmals verdoppeln. Deine Problemlöse-Rationalität, Franz, ist zu einer folgenschweren Ideologie geworden. Und zwar aufgrund ihrer Verbindung mit dem Gleichheitsprinzip: Alle Menschen sollen so leben wie die angeblich auserwählten Christen. Damit begann bekanntlich der Vernichtungsfeldzug gegen andere Kulturen. In Verbindung mit der Medizintechnik der Industriegesellschaften wurde aus der Ideologie der Nächstenliebe eine entsetzliche Industrialisierungsfolge ohne Industrialisierung, wie es v. Ditfurth so treffend dialektisch formulierte. Denn die naive Übertragung der Sozialtechnologien aus den Industriestaaten in die sogenannten Entwicklungsländer verminderte zwar die Säuglingssterblichkeit, ließ die Geburtenrate aber unbeeinflußt. Das Desaster der Bevölkerungsexplosion war die Folge. Der Streit zwischen Sozialtechnologen und Dialektikern ist somit faktisch längst entschieden: Ohne Einfluß auf das Ganze einer Gesellschaft und ihrer Systemdynamik ist es gelinde gesagt fahrlässig, in einer Gesellschaft bewährte Sozialtechnologien in positivistischer Manier aus ihrem sozialen Kontext zu isolieren und einfach auf andere Gesellschaften zu übertragen. Die sogenannten Stückwerk-Technologien der Problemlöse-Ideologen verkennen den Umstand, daß Problemlöse-Verfahren immer nur im gesamtgesellschaflichen Zusammenhang sinnvoll sind. Und die politisch viel beschworene Methode der kleinen Schritte wird zur Gefahr, wenn man am Abgrund wandelt. Das zeigt meines Erachtens sehr schön die drohende Klimakatastrophe. Physikalisch gesprochen: In der Nähe von Phasenübergängen bergen auch kleine Schritte große Risiken und können schwerwiegendere Folgen haben als geplante gesamtgesellschaftliche Veränderungen, wie z.B. der Übergang in die Ökogesellschaft.``

,,Dem kann ich nur beipflichten``, kam Pieter Franz zuvor. ,,Die Popper'sche Stückwerk-Technologie war ja nur ein Reflex auf die falschen Propheten des Systemdenkens. Indem er Platon, Hegel, Marx, Stalin und Hitler in einen Topf warf, hat er allerdings das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.``

Sichtlich amüsiert begann Franz seinen Einwand. ,,Ihr meint also im Ernst, daß gesamtgesellschaftliche Veränderungen des Systemganzen leichter durchschaubar seien als kleine Schritte in Einzelbereichen? Daß ich nicht lache! Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1% wird kaum fatale Folgen haben. Ein Anstieg um 10% aber den Konsum abwürgen.``

,,Deine isolierende Schwarz-Weiß-Malerei scheint mir typisch für Ideologen``, erwiderte Pieter ungehalten. Sofie kam unterdessen der Freud'sche Satz in den Sinn, daß der Konkurrenz die Eifersucht zugrunde liege. Aufmerksam folgte sie den Streithähnen. ,,Es geht nicht um ein entweder-oder kleiner Schritte oder großer Systemveränderungen. Das ist bloß das antagonistische Denken Deiner Yuppie-Ideologie. In der Dialektik geht es um ein sowohl-als-auch. D.h. jeder kleine Schritt ist im Rahmen des Ganzen zu sehen und das Ganze in seiner Ausprägung im kleinen: Global denken und lokal handeln heißt das Motto. Nehmen wir das Beispiel der sich abzeichnenden globalen Klimaänderung. Seit Beginn der industriellen Revolution steigt in sehr kleinen Schritten der Kohlendioxyd-Anteil in der Atmosphäre. Zugleich nimmt der Ozongehalt in der oberen Luftschicht ab. Damit einher geht ein geringfügiger, aber fortdauernder Anstieg der mittleren Lufttemperatur in Erdnähe. Dieser Temperaturanstieg ist zu 95% anthropogen, d.h. menschengemacht. Seit langem schon schmelzen die Gletscher ab, mehren sich Unwetter und Überschwemmungen, steigt der Meeresspiegel. In den systemdynamischen Modellrechnungen der Klimaforscher lassen sich die möglichen Konsequenzen bereits abschätzen: die Gletscher werden vollends abschmelzen, weite Küstenregionen werden überschwemmt, die Wüsten breiten sich weiter aus, Klimaextreme nehmen zu. Und das sind nur die direkten Folgen des Klimawandels. Indirekte Auswirkungen werden sich in globalen Bevölkerungswanderungen äußern und weitere Kriege hervorrufen. Und was tun die Yuppies? Propagieren weiterhin freie Fahrt für freie Bürger und ein Auto für alle!``

,,Du haust hier ganz schön auf den Putz``, entfuhr es Franz. Er belächelte Pieters Inbrunst. ,,Die Klimamodelle sind keineswegs so präzise wie Du sie darstellst. Es gibt noch gravierende Unwägbarkeiten bei den Meeresströmungen und der Wolkenbildung, um nur zwei Beispiele zu nennen ...``

,,Das ist doch ein Grund mehr, eher vorsichtig zu sein, um auf der sicheren Seite zu liegen``, unterbrach Pieter.

,,Wir sollten zudem das Selbstregulationsvermögen der Biosphäre nicht vernachlässigen ... ``

,,Das allerdings ganz andere Folgen haben könnte als wir uns Träumen lassen``, ereiferte sich Pieter. ,,Jedenfalls ist die Biosphäre nicht auf die Existenz von Menschen angewiesen. Der durch Klimaänderung ausgelöste Phasenübergang könnte Bedingungen schaffen, die menschliches Leben ausschlössen.``

,,Also``, meldete Sofie sich zu Wort, ,,was mir euer Streit hier deutlich macht``; sie schaute abwechselnd Pieter und Franz freundlich an, ,,ist, daß alle Beratungsteile offensichtlich zusammengehören und eine Trennung vielleicht didaktisch nützlich, ansonsten aber recht künstlich ist. Praktische Beratungen darüber, wie wir unsere Gesellschaft gestalten sollten, sind nicht zu trennen von den theoretischen Diskursen über die Geltung wissenschaftlicher Hypothesen. Und die Einnahme von Standpunkten im Argumentieren hängt nicht allein von rationalen Erwägungen ab, sondern läßt auch Rückschlüsse auf die Biographie der Diskutanden zu, um es neutral auzudrücken!``

,,Das ist genau der Anlaß für die Frankfurter``, nahm Niels den Gedanken auf, ,,das kommunikative Handeln in eine allgemeine Handlungs- und Systemtheorie einzubetten; ohne allerdings einen Aspekt auf Kosten eines anderen zu verabsolutieren: Systemstabilität und Sozialintegration bleiben stets verschränkt. D.h. jeder Diskurs ist zunächst eingebettet in den Kontext der Systemimperative des erfolgsorientierten Handelns. Demgegenüber hat er immer wieder seinen verständigungsorientierten Sinn geltend zu machen. Eine Unterwanderung der Verständigungsbereitschaft ist dabei nicht nur durch die Systemimperative möglich, sondern droht auch durch die unreflektierten individuellen Bedürfnisse.`` Und als ob er Sofies Gedanken gelesen hätte, fuhr er fort: ,,Eifersucht als Ausdruck des Erlebens und Konkurrenz als Norm in der kapitalistischen Gesellschaft trüben nicht selten das Licht der Wahrheit.``

,,Entscheidend bleibt die Gier. Erfolg hat, wer ihr nachkommt, Mißerfolg, wer sie bekämpft``, gab Franz provozierend zum besten.

,,Du bestätigst sehr schön, was Niels gerade sagen wollte``, knüpfte Nell an. ,,Imperialismus nach außen und Sozialdarwinismus nach innen, sind Ausdruck einer Ideologie: des Biologismus.``

,,Wir sind halt die Nachfahren der Sieger im Überlebenskampf unserer Vorfahren``, setzte Franz noch einen drauf.

,,Konsum, Sport und POP-Kultur lassen unserem Triebleben genügend Spielraum zum Ausleben``, vermittelte Niels. ,,Deshalb bleibt es allerdings wichtig, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so zu regulieren, daß die Armen nicht noch ärmer und die Reichen nicht immer reicher werden.``

,,Also, wenn ich `mal was anmerken darf``, meldete sich zaghaft eine Schülerin. ,,Der Dissens hier zwischen uns, zeigt doch wie illusionär die idealtypischen Diskurse eigentlich sind. Letztlich setzt sich immer der Stärkere durch, nicht das bessere Argument. Das ist ja auch in der Wirtschaft so. Wie Microsoft zeigt, entscheidet nicht die Produktqualität über den Absatz, sondern das Marketing. In einer Demokratie unter kapitalistischen Randbedingungen kann es schwerlich anders sein. Und die Allmacht der Medien führt dazu, daß jeder immer wieder nur den kleinsten gemeinsamen Nenner wählt, das kleinste Übel. Dem weiteren Durchwursteln, auch in Gestalt der Stückwerk-Technologie, gilt es eine Vision der besseren Gesellschaft entgegenzusetzen, in der nicht nur Eigennutz zählt, sondern eine Ökogesellschaft möglich wird, die auch den Erhalt der Biosphäre zum Ziel hat.``

Niels leitete zum Schlußwort über: ,,Ich will die treibende Kraft der Triebe in unserem Leben gar nicht in Abrede stellen; gleichwohl sollten wir immer wieder darauf drängen, unsere Subjektivität zu transzendieren und uns zu zwanglosen Beratungen zusammenzufinden. Es gilt das Gemeinsame der Menschen zu betonen, nicht das Trennende. Trotz aller Differenzen eint uns ja diese grundsätzliche Gemeinsamkeit der Bereitschaft zum Dialog in Orientierung an die ideale Sprechsituation. Insofern handeln wir immer schon moralisch. Und wenn wir zurückblicken, können wir anerkennend an die Erfolge unserer Vorfahren anknüpfen im Kampf gegen Aberglauben, Religion und Ideologie. Wissenschaft und Demokratie sind im Zuge der Aufklärung die kulturellen Errungenschaften, die es weiter auszugestalten gilt.

Bevor wir auseinandergehen, will ich noch einmal thesenhaft die philosophischen Perspektiven wiederholen und zusammenführen, die mit Blick auf eine philosophische Lebensform ein Weiterdenken lohnen:

,,Soll das heißen, Du hältst die Evolution hier auf der Erde für ausgereizt?`` drängte es Franz zu fragen.

,,Nein, das wollte ich nicht sagen. Ihr könnt euch ja mal Gedanken darüber machen, wie es mit der Erde weiter gehen könnte. Allerdings nehme ich an, daß sie in spätestens 4,5 Gigajahren im roten Sonnenriesen verschwinden dürfte.``

Nach dem Essen blieben die Schüler auf dem Campus. Sofie hatte sich zu Franz gesetzt. ,,Sag `mal``, begann sie zaghaft, ,,siehst Du denn keinen Dissens zwischen Gleichheit und Vernunft? Vernünftig kann eine Problemlösung doch nur dann sein, wenn sie nicht auf Kosten anderer erfolgt. Warum sollen alle Autofahren und Flugreisen machen können? Wo bleibt der Minderheitenschutz?``

Franz antwortete nicht gleich. Er zupfte einen Grashalm heraus und spielte mit ihm. ,,Deine Frage läßt sich auch umkehren``, hob er an und sah Sofie eindringlich an. ,,Warum soll niemand Autofahren und Flugreisen machen können? Wo bleibt der Minderheitenschutz?``

Sofie hatte Mühe, seinen ironischen Unterton zu überhören. Zugleich nahm sein Blick sie gefangen. Und jetzt kitzelte er sie auch noch mit dem Halm am Arm, strich langsam auf und ab, so daß sie eine Gänsehaut bekam. ,,Autofahren und Flugreisen sind ökologisch unverträglich``, hörte sie sich antworten und dachte an den Inhalts- und Beziehungsaspekt der Kommunikation.

,,Das Problem ist die große Zahl der Menschen ... ``

,,Und deshalb sollen einige tun und lassen können, was anderen verwehrt bleibt?``

,,Warum nicht?`` fragte er doppeldeutig, denn Sofie hatte sich dem Kitzeln durch Umsetzen entzogen. ,,Es ist alles eine Frage der Verhältnismäßigkeit``, fuhr er nüchtern fort.

,,Aber die Verhältnisse sind doch längst gesprengt!`` ereiferte sie sich. Wir haben gar keine Wahl mehr, als verallgemeinerbare Technologien zu nutzen ... ``

,,Oder das Gleichheitsprinzip aufzugeben``, widersprach er. ,,Die Menschen sind nicht alle gleich und müssen auch nicht alle gleich behandelt werden. Es bedarf bloß höherer Energiepreise ... `` Unterdessen war er ihrer Ausweichbewegung gefolgt und hatte sich sogar an sie gelehnt. Mit den Energiepreisen hatte er ihr eine Brücke gebaut ...

,,Eine ökologische Steuerreform: Arbeit billiger machen, um für mehr Beschäftigung zu sorgen und Energie verteuern, um den Umweltschutz zu fördern.``

,,Wobei natürlich die Verhätlnismäßigkeit gewahrt bleiben muß``, flüsterte er ihr ins Ohr und streifte sanft mit der Nase ihre Muschel. Fast reflexartig legte Sofie ihren Kopf ein wenig in den Nacken, so daß sich ihre Wangen berührten. Kühn drehte er sich zu ihr herum und liebkoste mit den Lippen ihre Nase, die Augenbrauen; tastete sich zu ihren Lippen herunter, saugte zart an ihnen, leckte sie und deutete einen Kuß an. Doch unvermittelt sprang er auf und verabschiedete sich: ,,Bis heute abend, auf daß wir eine zweite Heimat finden.``

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Ingo Tessmann
Sun Mar 15 18:03:21 MESZ 1998