Die Zweite Heimat

DIE ZEIT DER VIELEN WORTE. Stefan, 1968/69. Der Filmemacher Stefan unterwegs nach Berlin. Neben ihm die Schauspielerin Olga im Auto. Sie haben das Drehbuch ihres Freundes Reinhard dabei. Nach einem Aufenthalt in Venedig bei Esther, einer Verwandten von Fräulein Cerphal, war Reinhard auf mysteriöse Weise im Ammersee ertrunken. Er war plötzlich aus dem Boot gefallen; hatte aber sein Drehbuch zurückgelassen. Stefan vermißt in ihm die gesellschaftliche Relevanz: So genial unser Reinhard war, aber für politische oder historische Realitäten hat er überhaupt kein Gespür gehabt. Olga kommt es mehr auf die Menschen an: Aber seine Menschen! Seine Menschen, die haben Blut in den Adern.

Die Villa, in der Stefans Dreharbeiten stattfinden sollen, liegt unweit des Wannsee-Ufers inmitten eines hochherrschaftlichen Gartens mit altem Baumbestand. Zur Begrüßung des bereits angereisten Filmteams wird Stefan grundsätzlich: Ein Film besteht aus lauter Einzelheiten, die man nicht sieht. Deshalb möchte ich, das heißt ich wünsche mir, daß wir alle eine große Familie werden. Ich meine, daß sich jeder für das Ganze mitverantwortlich fühlt.

Am nächsten Tag taucht Helga mit einigen Kommunarden in der Villa auf. Das Dichten hat sie aufgegeben, da es wichtigeres zu tun gebe. Sie drängt auf eine Demokratisierung des Teams, auf Mitspracherecht auch in inhaltlichen Fragen. Die Diskussionen beginnen sich hinzuziehen...

Hermann war mit aromatischen Klängen zur Untermalung von Werbung groß `rausgekommen. Er hatte sich bei der Isarfilm in München ein avantgardistisches Tonstudio einrichten lassen können. Schnüßchen hatte ein Psychologie-Studium begonnen und war nebenbei in der Drogenberatung tätig. Sie lebten sich auseinander, wie so viele Paare seinerzeit. Als Hermann auch noch in eine Schaffenskrise gerät, ergreift er kurzerhand die Flucht. In der Kneipe begrüßt ihn Alex: Ach, Hermann mein lieber alter Oberstift, hast du die Familie endlich verlassen, diese historisch-veraltete Neurosenküche? Hat dich das Leben wieder?

Doch in der Kneipe fühlt er sich genauso ausgestoßen wie zu Hause. So macht er sich auf nach Berlin: Es war wie in meinen Studentenjahren, wenn ich das Gefühl hatte, daß es immer die anderen sind, die ihre Hände am Puls der Zeit haben. Es war das plötzliche Verlangen, teilzunehmen am Geschehen...

In der Berliner Kommune gerät Hermann mit Katrin, einer Kommilitonin Helgas, auf die Lustwiese. Es werden Shit-Plätzchen gereicht. Aus hohen Standboxen quellen die satten Gitarrenklänge von Jimi Hendrix. Ein erstes Paar ergeht sich in hemmungsloses Gerammel. Hermann, unerfahren im Drogenkonsum, verliert den Realitätsbezug, ist aber zugleich nüchtern genug, um vorzeitig die Flucht zu ergreifen.

Der Film klingt aus, indem sich Hermann in einen Artikel Katrins vertieft. Sein Inhalt bleibt ihm fremd: Für die meisten Gefühle haben wir keinen passenden Ausdruck mehr. Wir haben Hunger und sagen, daß wir arbeiten wollen. Wir frieren und sagen, daß wir ein Haus besitzen wollen. Wir sehnen uns nach Solidarität und sagen, daß wir verliebt sind. Die Liebe ist nur ein Trümmerhaufen der Gefühle und die Familie eine Neurosenküche. Der Mann unterdrückt die Frau, die Frau rächt sich am Kind, das Kind ist eifersüchtig auf den Vater, der Vater hat ein schlechtes Gewissen vor der Mutter. Die Mutter erdrückt das Kind mit Liebe. Das Kind versucht zu fliehen. Der Vater gibt der Mutter die Schuld. Die Mutter erinnert an die Pflicht. Der Vater vertritt den Staat. Das Kind revoltiert. Die Mutter weint, der Vater schlägt zu. Es gibt einen Faschismus der Gefühle. Wir sprechen diese Wahrheit aus. Danach ist nichts mehr so wie es vorher war.

KUNST ODER LEBEN. Hermann und Clarissa, 1970