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Perspektiven einer kritischen Philosophie

Auf der Grundlage der angedeuteten allgemeinen Theorie der Erfahrung sollten sich Natur- und Sozialphilosophie verbinden lassen. Die nichtkommutative und nichtlokale Struktur des quantenmechanischen Zustandsraumes stellt einen angemessenen Rahmen zur Verbindung der Individualtität und Totalität sowohl atomarer als auch persönlicher und gesellschaftlicher Zustände dar. Mit den Meßoperatoren gehört das Meßsubjekt bereits zum Formalismus, der damit die Bedingungen seiner Prüfbarkeit enthält. Diese Verbindung von Subjekt und Objekt in einer selbstbezüglichen Theorie ist das Kennzeichen einer kritischen Theorie, die sich keiner Isolierung und Subjektlosigkeit der Erfahrung schuldig macht. Wie formulierte es Horkheimer: Was jeweils gegeben ist, hängt nicht allein von der Natur ab, sondern auch davon, was der Mensch über sie vermag. Eine Objektivierung hat nicht nur in der Sozialforschung, sondern auch in der Quantentheorie eine Unbestimmtheit in der Voraussage inkommensurabler Eigenschaften zur Folge.

Im Rahmen der Synergetik sind bereits Methoden der mathematischen Physik auf die Sozialforschung übertragen worden. Mathematische Modelle individuellen Verhaltens im sozialen Feld werden analog zu den Zustandsänderungen von Elektronen im elektromagnetischen Feld berechnet: Die Mastergleichungen zur Formulierung der Verhaltensdynamik in Populationen folgen aus der statistischen Beschreibung mikrophysikalischer Zustandsänderungen durch die v. Neumann-Gleichung für den statistischen Operator. Dieser phänomenologischen Analogie zwischen den physikalischen Zustandsvektoren im Hilbertraum und dem menschlichen Verhaltensrepertoir in der Lebenswelt könnte eine Entsprechung zwischen den quantenmechanischen Produktzuständen durch Interferenzen und der Überlagerung von Stimmungen im menschlichen Erleben zugrunde liegen. Nicht nur atomare Zustände interferieren, sondern auch Persönlichkeitszustände interagierender Individuen scheinen verschränkt zu sein. Der Realabstraktion durch die Umstellung der Lebenswelt auf die Systemimperative entspräche die Zustandsreduktion durch das Experiment. D.h. der Natur im Experiment erginge es ähnlich wie dem Menschen im Kapitalismus.


Ingo Tessmann
5/30/1998