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Die Kopenhagener Schule

Kommen wir zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Frankfurter und Kopenhagener Kritik an der traditionellen Theorie bzw. klassischen Physik. Nach dem Erfolg des Bohr'schen Atommodells entstand in Kopenhagen die Initiative zur Gründung eines neuen physikalischen Instituts an der Universität. Bohr war 1916 auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für theoretische Physik berufen worden. Mit der Einweihung des Instituts für theoretische Physik im März 1921 wurde er dessen Direktor. Er blieb es bis zu seinem Tod im November 1962. Das später sogenannte Niels Bohr Institut (NBI) wurde schnell zum internationalen Zentrum für Quantenforschungen.

Nach der Erklärung des periodischen Systems der Elemente aus den Bohr'schen Quantenpostulaten und der Entwicklung der Quantenmechanik wurde mit der sogenannten Kopenhagener Interpretation ein erster theoretischer Abschluß der Quantentheorie erreicht. Die aus intensiven Diskussionen, insbesondere zwischen Bohr und Heisenberg, hervorgegangene Kopenhagener Interpretation (KI) kann in fünf Hauptpunkte zusammengefaßt werden:

KI1
Positivismus: Die Quantentheorie bezieht sich auf das atomare Naturgeschehen, wie es sich zeigt, wenn es mit realisierbaren Meßgeräten untersucht wird.
KI2
Wahrscheinlichkeit und Wissen: Die Zustandsfunktion zur Beschreibung eines atomaren Systems meint lediglich die Wahrscheinlichkeitsamplitude, mit der Systemzustände sich entwickeln. Sie beinhaltet nur das Wissen, das wir von einem System haben können.
KI3
Unbestimmtheitsprinzip: Die methodische Forderung, Objekte zu beschreiben, hat eine Unschärfe in der Voraussage inkommensurabler Eigenschaften dieser Objekte zur Folge.
KI4
Korrespondenz und Komplementarität: Quantenzustände atomarer Systeme müssen mit Begriffen und Verfahren der klassischen Physik ausdrückbar sein. Die Individualität und Totalität der Quantenzustände hat eine Komplementarität und Unbestimmtheit der klassischen Begriffe und Verfahren zur Folge.
KI5
Abgeschlossenheit und Einheit: Physikalische Theorien sind im Rahmen ihrer Geltungsbereiche abgeschlossen. Korrespondenzregeln zwischen ihnen vermitteln Übergänge. Die erlebte Einheit der Natur sollte in der Einheit der Physik ausdrückbar sein.

Frei nach Horkheimer ließe sich ergänzen: Es gibt nun ein menschliches Verhalten, das die Natur selbst zu seinem Gegenstand hat. Dieses Verhalten wird im folgenden als das ,,kritische`` bezeichnet. Das Wort wird hier weniger im Sinn der idealistischen Kritik der reinen Vernunft als in dem der komplementären Kritik der Quantentheorie verstanden. Es bezeichnet eine wesentliche Eigenschaft der komplementären Theorie der Natur. Folgende Besonderheiten sind hervorzuheben:

Kritische Theorie

gibt dem blinden Zusammenwirken der Quantenzustände eine vernünftige Interpretation;

mißt die als Zufall erscheinende Übereinstimmung zwischen Denken und Sein am Verhältnis vernünftiger Absicht und Verwirklichung;

hält das Verhältnis von Subjekt, Theorie und Gegenstand nicht für unveränderlich;

entnimmt der Naturgeschichte die Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden Einheit der Natur, die der Wechselwirkung bereits immanent ist;

KI1 richtet sich gegen den naiven Abbild-Realismus der klassischen Physik. Geht es den Kopenhagenern um die Durchdringung von Naturphilosophie und Physik; kommt es den Frankfurtern auf die Durchdringung von Sozialphilosophie und Soziologie an. FI1 könnte lauten: Die Gesellschaftstheorie bezieht sich auf das individuelle Gesellschaftsgeschehen, wie es sich zeigt, wenn es mit realisierbaren Erhebungsverfahren untersucht wird.

In der Naturgeschichte haben sich Selbstreproduktion und Stoffwechsel auf vielen Ebenen ausdifferenziert. Atome und Individuen bilden Ganzheiten. Je genauer man sie untersucht, desto mehr verändert man sie. Objektivität ist nur mit Unbestimmtheit erkaufbar. Insofern könnte aus KI3 zwanglos FI3 werden. Auch KI4 könnte als FI4 übernommen werden: Persöhnlichkeitszustände individueller Organismen müssen mit Begriffen und Verfahren des Alltags ausdrückbar und erhebbar sein. Die Individualität und Totalität der Persönlichkeitszustände haben eine Dialektik und Unbestimmtheit in den Begriffen und Verfahren des Alltags zur Folge.

Die Übertragbarkeit von KI5 halte ich für offensichtlich. Unklar bleibt mir lediglich KI2 in der Bedeutung für eine kritische Theorie der Gesellschaft. Allerdings scheinen die Unterschiede, daß Gesellschaft nicht formalisierbar sei und Natur nicht vernünftig, überwindbar zu sein. Solange wir den Menschen Freiraum lassen, folgen sie ihrer inneren Natur und die Gesellschaft bleibt roh und naturwüchsig. Bringen wir die Natur andererseits unter Zwangsbedingungen physikalischer Experimente, äußert sie sich lediglich im Rahmen unserer Formalismen.

Fassen wir die Frankfurter Interpretation (FI) der Gesellschaftstheorie zusammen:

FI1
Positivismus: Die Gesellschaftstheorie bezieht sich auf das individuelle Gesellschaftsgeschehen, wie es sich zeigt, wenn es mit realisierbaren Erhebungsverfahren untersucht wird.
FI2
Wahrscheinlichkeit und Wissen: Die Zustandsfunktion zur Beschreibung eines individuellen Systems meint lediglich die Wahrscheinlichkeitsamplitude, mit der Systemzustände sich entwickeln. Sie beinhaltet nur das Wissen, das wir von einem System haben können.
FI3
Unbestimmtheitsprinzip: Die methodische Forderung, Objekte zu beschreiben, hat eine Unschärfe in der Voraussage inkommensurabler Eigenschaften dieser Objekte zur Folge.
FI4
Korrespondenz und Dialektik: Persönlichkeitszustände individueller Organismen müssen mit Begriffen und Verfahren der Umgangssprache ausdrückbar sein. Die Individualität und Totalität der Persönlichkeitszustände hat eine Dialektik und Unbestimmtheit in den Begriffen und Verfahren des Alltags zur Folge.
FI5
Abgeschlossenheit und Einheit: Soziologische Theorien sind im Rahmen ihrer Geltungsbereiche abgeschlossen. Korrespondenzregeln zwischen ihnen vermitteln Übergänge. Die erlebte Einheit der Gesellschaft sollte in der Einheit der Soziologie ausdrückbar sein.

Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hat 1985 und 1992 zwei umfassendende, aber auch fragmentarische Werke zum Aufbau der Physik und zur Struktur von Zeit und Wissen vorgelegt. Weizsäcker studierte bei Heisenberg Physik und wurde von Bohr im Philosophieren bestärkt. Bis 1956 war Weizsäcker Professor für Physik in Straßburg und Göttingen. Danach übernahm er eine Professur für Philosophie in Hamburg. Ab 1970 leitete er das Max Planck Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt. In ihren theoretischen Untersuchungen arbeiteten Habermas und Weizsäcker zumeist nebeneinander her. Ging es dem einen um den Anfang einer Gesellschaftstheorie auf der Grundlage des kommunikativen Handelns , suchte der andere den Aufbau der Physik aus der Struktur von Zeit und Wissen zu verstehen. Leider kam es zwischen den beiden zu keiner Zusammenarbeit an einer gemeinsamen Theorie von Natur und Gesellschaft. Sie diskutierten ihre Ansätze lediglich in den regelmäßig stattfindenden philosophischen Kolloquien des Instituts. Nehmen wir die Gedanken Weizsäckers aus seiner Frage an Habermas auf: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalpragmatik ?

Die Universalpragmatik schließt mit der These von der Doppelstruktur der Rede an die Sprechakttheorie an: Jeder vollständig formulierte Satz kann in einen illokutiven und einen propositionalen Bestandteil zerlegt werden. Für Habermas dient die Illokution der Metakommunikation über den Verwendungssinn des kommunikativen Inhalts, der Proposition. Die Doppelstruktur der Rede mache lediglich eine Selbstbezüglichkeit explizit, die in jedem Sprechakt bereits enthalten sei. Weizsäcker dagegen interpretiert im Rahmen seiner zeitlichen Logik die Doppelstruktur der Rede als eine Verbindung von Vergangenheit und Zukunft: Ich behaupte das formal mögliche Faktum, daß p, als wirkliches Faktum. Propositionen sind mögliche Fakten. Sie können nicht nur behauptet, sondern z.B. auch befohlen werden. Faktizität ist die Präsenz der Vergangenheit; denn das Vergangene vergeht nicht. Die Illokution bezieht sich auf etwas in Zukunft Mögliches, das man als Möglichkeit wird nachweisen können, wenn es etwas Vergangenes sein wird.

Für Habermas folgt der Unterschied zwischen Urteilen und Normen aus den verschiedenen Geltungsansprüchen. Der kognitive Sprachgebrauch erhebt den Geltungsanspruch der Wahrheit von Urteilen. Der interaktive Sprachgebrauch erhebt den Geltungsanspruch der Richtigkeit von Normen. Erhebung und Einlösung der Geltungsansprüche folgen der kognitiven- bzw. der interaktiven Kompetenz der Sprecher. Die Vermögen der kognitiven Kompetenz sind nicht das Thema Habermasens. Weizsäcker interpretiert die Universalpragmatik mit Begriffen der zeitlichen Logik. Eine Proposition (assertorisches Urteil) ist als ausgesprochenes Faktum immer perfektisch. Eine Illokution dagegen enthält ein in Zukunft einzulösendes Angebot, verweist als verabredete Handlungsmöglichkeit auf einen Handlungsspielraum. Kurz: Die Illokution ist futuristisch, die Proposition perfektisch.

Wie fügt sich nun die Doppelstruktur der Rede in die zeitliche Logik ein? Für Weizsäcker ist zeitliche Logik die Theorie über zeitliche Verhältnisse. Präsentische Rede ist Sprachhandlung, ist Handlungsschema, ist Verhaltensschema, ist Vorgangsschema. D.h. präsentischer Rede liegen Vorgänge zugrunde. Nicht Ereignisse sind primär, sondern Vorgänge. Wiederholbare Vorgänge bilden ein Schema. Weizsäcker hebt drei Prinzipien für Vorgänge hervor: Sie unterfallen einem Schema oder nicht (Ja-Nein-Prinzip). Verneinte Vorgänge sind keine Vorgänge (Prävalenz des Positiven). Vorgänge können zueinander passen (Anpassungsprinzip).

Aller Erfahrung liegen zeitliche Urteile zugrunde, auch der Erfahrungswissenschaft Physik. Erfahrung machen heißt, aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen. Die Vergangenheit ist faktisch, die Zukunft möglich. Der Wahrscheinlichkeit geht die Unterscheidung von Faktizität und Möglichkeit voran. Fakten sind diskret, Möglichkeiten kontinuierlich. Wahrscheinlichkeit ist erwartete relative Häufigkeit. Weizsäcker rekonstruiert die Physik als allgemeine Erfahrungswissenschaft. Zentral ist ihm die Quantentheorie. Die allgemeine Quantentheorie ist eine Vorhersagetheorie über empirisch entscheidbare Alternativen: Die binären Alternativen, aus denen die Zustandsräume der Quantentheorie aufgebaut werden können, nennen wir Ur-Alternativen . Das einer Ur-Alternative zugeordnete Subobjekt nennen wir ein Ur. Wenn wir uns an Russell erinnern, können wir Weizsäckers Ansatz als einen logischen Atomismus der Ur-Alternativen bezeichnen. Hierbei ist allerdings zu beachten, daß es sich beim Ur um ein Quantenbit (qbit) handelt, das sehr viel reichhaltiger ist als ein Boole'sches bit. Im Gegensatz zum bit bildet das qbit eine kontinuierliche Überlagerung der Zustände wahr/falsch bzw. 1/0. Und so ist der Ur-Ansatz fruchtbarer als es zunächst scheinen mag; denn er verzichtet auf Räumlichkeit. Damit entgeht er der Frage nach dem kleinsten Objekt. Die kleinste Alternative dagegen ist trivialerweise eine binäre Alternative. Wer die Hilbertraumstruktur kennt, weiß auch, daß ein Hilbertraum trivialerweise in zweidimensionale Unterräume zerlegbar ist. Der Ansatz ist also mathematisch denkbar einfach. Was bringt er philosophisch und physikalisch?

Weizsäcker folgt einer realistischen Hypothese und nimmt für die Ure die Geltung der gleichen Invarianzen an, die sich bereits in der Physik bewährt haben. Aus der Reflexion der Physik kommt er so auf dem Weg eines Kreisgangs von der Zeit über die Ure zum Raum. Denn die sogenannten unitären Transformationen eines zweidimensionalen komplexen Zustandsraumes lassen sich mathematisch auf einen dreidimensionalen reellen Raum abbilden. Alle Dynamik ist Wechselwirkung. D.h. physikalisch interpretiert stellt der Raum die Wechselwirkung zwischen den Uren her. Damit folgt ur-theoretisch die spezielle Relativitätstheorie aus der Quantentheorie. Philosophisch gesehen hat Weizsäcker den Positivismus der Kopenhagener Interpretation auf die Spitze getrieben, indem er die Ja-Nein-Entscheidungen beim Messen zur Grundlage seiner Theorie gemacht hat. Allerdings läßt die Ur-Theorie auch eine materialistische Lesart zu. Letztlich ist es die Energie, die informiert, indem sie sich in Form begibt, ausdifferenziert und als qbit zugleich Inhalt und Form, Energie und Information ist.


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Ingo Tessmann
5/30/1998