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Kritik und Fortführung der Mannschen Literartur

Leben wir in einem All, dessen Sterne sich in der unendlichen Weite ewiger Expansion verlieren werden? Wird auch die himmlische Sternenpracht erst im finsteren Dunkel kosmischer Ausdehnung verblassen, wenn die Erde längst im Strudel unserer zum roten Riesen aufgeblähten Sonne untergegangen sein wird, hätte diese nihilistische Perspektive unseren beiden Geistesheroen keineswegs behagt. Aber wer weiß? Denn aus den ,,Fluktuationen`` des Nullpunktsfeldes könnten womöglich unzählige weitere Universen entstehen und vergehen. Lee Smolin hat gar nach dem Prinzip der kosmologischen Auslese über eine Vielzahl von Universen spekuliert, die nach ihrem ,,Rückprall`` in schwarzen Löchern mit leicht abgewandelten Naturkonstanten erneut entstehen und vergehen könnten. Entspräche die ,,Lebendigkeit`` im Darwinismus dieses Über-Alls oder Meta-Universums unzähliger Nebenwelten noch der Mannschen Allsympathie? Jedenfalls ließe sich so die Allantipathie in der mutmaßlichen Entwicklung unseres Weltalls aufheben in der Perspektive einer Lust und Last im Entstehen und Vergehen vieler kosmischer Welten.

Physikalische Science Fiction und literarische Phantasie können zu übereinstimmenden Visionen führen. Darauf werde ich im nächsten Kapitel zurückkommen. Hier geht es erst einmal um die Frage, ob es in ähnlicher Weise Nachfolger Manns und Weiterentwicklungen seines Werkes gegeben hat wie sie sich bis heute für Einstein und sein Werk nachweisen lassen. Ausgangspunkt ist die geistige Ausnahmesituation der Zeit um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert. Einsteins und Manns Erfolg ist nur aus den Umbrüchen in Wissenschaft und Kunst heraus verständlich. Positivismus und Dekandenz ließen die beiden Erkenntnis-Künstler gleichermaßen unbefriedigt und so suchten sie einen Ausweg aus der Misere des ,,Kulturverfalls`` im Rückgriff auf klassische Prinzipien, an denen sie in den Wirren der Weimarer Republik unbeirrt festhielten und so im zivilisierten Ausland zu Repräsentanten in der Nachfolge deutscher Denker und Dichter werden konnten. Nicht nur Mann nahm seine deutsch-humanistische Kultur mit in die Emigration, sondern auch Einstein seine europäisch-klassische. Die herausragende Stellung zweier einzelner Gelehrter als Repräsentanten der Physik und Literatur in Deutschland ist also nur aus der Situation der Zeit heraus verständlich, wenngleich natürlich auch ihr jeweiliges Talent zu den notwendigen Bedingungen ihrer Durchbrüche und Neuerungen zählte. Auf den Untergang des 3. Reiches folgte der Aufstieg der USA zur Weltmacht. Obwohl die Amerikaner die Deutschen vom Germano-Faschismus befreiten und den american way of life unter den Menschen im Nachkriegsdeutschland verbreiteten, verhalf der ideologisch überzogene Anti-Kommunismus der Amerikaner zugleich aber wieder den reaktionären Machteliten in Deutschland an die Macht. Sogar Nazis gelangten wieder in Amt und Würde, da die Entnazifizierung in der Verbrüderung gegen den Kommunismus halbherzig blieb. Und so zeitigten sich auch Ressentiments gegen die Emigranten, die Deutschland in schweren Zeiten verlassen und verraten hätten. Das angeblich größere Leiden der inneren Emigration wurde gegen die scheinbare Leichtigkeit der äußeren Emigration ausgespielt. Auf der anderen Seite standen die unbelasteten Jungen, die zukunftsorientiert und freiheitssüchtig an die Ausgestaltung der neuen Spielräume gingen. Nach dem Schock von Hiroshima und Nagasaki ging es in der Wissenschaft um die friedliche Nutzung der Kernenergie. Und in der Kunst dominierten neue Formen und Ausdrucksweisen die Szene, denen arischer Heldenkult und griechische Klassik gleichermaßen zum Opfer fielen.

Am 10. Sept. 1947 entstand aus einer Versammlung jüngerer Autoren zur Gründung einer satirischen Literaturzeitschrift die Gruppe 74 . Die zumeist aus dem politischen Journalismus kommenden Jung-Schriftsteller proklamierten den Neubeginn nach der ,,Stunde Null``. Wie Rothmann in seiner kleinen Literaturgeschichte hervorhebt, bemühten sie sich um einen einfachen, klaren und präzisen Realismus, der sich allerdings durch Einbezug des Phantastischen und Surrealistischen zu einem parabelhaften oder visionären ,,magischen Realismus`` vertiefen sollte. Als Vorbilder dienten die amerikanischen Meister der short story und die französischen Vordenker eines humanistischen Existentialismus .

Am 17. Okt. 1947 erschein Doktor Faustus in der Schweiz. Dort wurde das Werk mit viel Lob bedacht: Ein Buch wie es seinesgleichen derzeit die Welt nicht hat, zitiert Harpprecht den Essayist Max Rychner. Und der Musikwissenschaftler Willi Schuh äußerte sich voller Enthusiasmus über die musikalischen Interpretationen, heißt es weiter. In Deutschland dagegen wurde der Faustus sehr viel zurückhaltender aufgenommen. So mißfiel Käte Hamburger die Kälte seiner Charakterisierungen. Und immer wieder wurde die Einseitigkeit des deutschen Kulturverfalls seit der Reformation Luthers bis hin zum Teufelspakt mit Hitler beanstandet. Aber genau darauf war es dem Großschriftsteller ja angekommen, wie Reich-Ranicki in Thomas Mann und die Seinen hervorhebend aus den Tagebüchern zitiert, nach denen die Deutschen ein Volk der romantischen Gegenrevolution gegen den philosophischen Intellektualismus und Rationalismus der Aufklärung gewesen seien. Das in der Völkerwanderung von unten niedergetrammpelte gute Deutschland war dabei das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang, was sich die nur scheinbar entnazifizierten Eliten und Mitläufer des untergegangenen 3. Reiches nicht gerne vorhalten ließen: Die im Doktor Faustus enthaltenen oder sich aus den symbolischen Handlungen ergebenden geschichtlichen Deutungen und weltanschaulichen Kommentare irritierten und befremdeten viele Kritiker und stießen beim deutschen Publikum schlechterdings auf Unverständnis, schreibt Reich-Ranicki in die Sieben Wegbereiter. Die folgenden heiter-illusionären Romane Der Erwählte und die Bekenntnisse kamen bei Publikum und Kritik sehr viel besser an, was in den gesammelten Aufsätzen aus der Zeitschrift Wirkendes Wort nachgelesen werden kann.

Einen bequemen Einstieg in die Thomas Mann Forschung bietet das Thomas Mann Handbuch. Darin wird nach der Zeit Thomas Manns, literatur- und kulturgeschichtlichen Bezügen, dem Werk, der Ästhetik und Kritik auch eine Einführung in die Forschungsgeschichte gegeben. Aus der Vielzahl der Forschungsbeiträge seien hier lediglich vier Studien herausgegriffen, die den Versuch machen, das Gesamtwerk in seiner inneren Einheitlichkeit vorzustellen:

1.
Hans Mayer, Thomas Mann, Werk und Entwicklung, Berlin 1950 und 1980,
2.
Eckard Heftrich, Vom Verfall zur Apokalypse, Ffm. 1982,
3.
Hans Wysling, Narzissmus und illusionäre Existenzform, Ffm. 1995,
4.
Thomas Klugkist, Sehnsuchtskosmogonie, Würzburg 2000.

Spannen Mayer und Heftrich den Bogen ihrer Untersuchungen von den frühen Erzählungen bis hin zum Spätwerk, exemplifizieren Wysling und Klugkist das Kunstschaffen Thomas Manns an zwei ausgewählten Werken, dem Krull und dem Faustus. Die historischen Betrachtungen in systematischer Absicht überdecken sich dabei mit der systematischen Analyse der beiden Spätwerke, die ja ihre Anfänge gleichfalls im frühen Schaffen Manns haben. Heftrich und Wysling wurden bereits zur Herausarbeitung der Mannschen Erkenntnis-Kunst herangezogen. Klugkist wird im nächsten Kapitel in Verbindung mit Einsteins Sehnsuchtskosmologie zu würdigen sein. Und so werde ich lediglich kurz bei Mayers Werkentwicklung verweilen. Bestimmend für Mayer ist eine verhalten materialistische Literaturkritik, die den Kunstanspruch eines Schriftstellers aus den tatsächlichen sozio-ökonomischen Verhältnissen zu verstehen sucht. Bis zur Zeit des 1. Weltkrieges hat Mayer bereits alle Motive beisammen, die Thomas Manns Verhältnis zu Deutschland bestimmten: Musik und Ironie, Bürgerlichkeit und Künstlertum, Leitmotiv und absolute musikalische Form, klassischen Humanismus und Nietzsche-Geist, Macht und Innerlichkeit, Geist als Verantwortung und Geist als Ausflucht oder Gepränge. Im Verständnis des Marxschen Materialismus' folgt auch der literarische Geist als Überbau der ökonomischen Basis der Gesellschaft; denn Bewußtsein ist bewußtes Sein. Und das Wissen, wie es um das Bürgerliche heute steht, bedeutet schon ein Heraustreten aus dieser Lebensform, einen Nebenblick auf Neues. Dabei bleibt niemand ganz der er ist, indem er sich erkennt. Die Schriftstellerei im gesellschaftlichen Kontext verändert zugleich den Geist, dem sie folgt. In seiner verhüllten Lebensbeichte des Faustus hat der bürgerliche Großschriftsteller den ästhetischen Formalismus, den der Teufel lehrt, zusammen mit Nietzsche-Philosophie, hat die ästhetische Barbarei ganz bewußt mit der politischen Barbarei zusammengekoppelt. Am Schluß hat Thomas Mann dann gleichsam sich selbst aufhebend die bürgerliche Epoche transzendiert und fordert einen über die bürgerliche Demokratie hinausgehenden sozialen Humanismus als Perspektive einer neuen Weltordnung.

Seit dem Beginn des kalten Krieges aus einem geradezu hysterischen Anti-Kommunismus heraus vertrat auch Albert Einstein die Utopie einer kultur- und blockübergreifenden Weltregierung zur Überwindung des eskalierenden Wettrüstens. In seiner Botschaft an den Weltkongreß geistiger Arbeiter hatte er 1947 als Rettung vor der letzten Katastrophe vorgeschlagen: Nur eines kann der Menschheit Schutz vor der Gefahr unvorstellbarer Zerstörung und mitwilliger Vernichtung gewähren: eine übernationale Organisation, die allein zum Besitz dieser Waffen berechtigt ist. Der weltweise Physiker starb am 18. April 1955 an den Folgen eines Aorten-Aneurysmas. Thomas Mann schrieb am Tag darauf einen Nachruf für die Neue Züricher Zeitung.

Tief erschüttert durch die Nachricht vom Tode Albert Einsteins vermag ich im Augenblick nur zu sagen, daß durch den Hingang dieses Mannes, dessen Ruhm schon zu Lebzeiten legendären Charakter angenommen hatte, für mich ein Licht erlosch, das mir seit vielen Jahren ein Trost war im trüben Wirrsal unserer Zeit.

Aus meinem eigenen Leben kann ich dasjenige dieses Landsmannes und Schicksalsgenossen kaum wegdenken. Die Bekanntschaft mit ihm war alt und wurde während der Jahre, die ich in Princeton verbrachte, zur Freundschaft.

Seine wissenschaftliche Größe, dem Laien nur ahnungsweise zugänglich, mögen Berufenere aufs neue verkünden. Was ich liebte, bewunderte und immer hoch halten werde, ist seine moralische Haltung, in der er, dem Menschheitsgedanken zugewandt und allem Konformismus überlegen, seine Überzeugungen kühn vertrat.

Will man bezweifeln, daß der Gram über den unseligen Gang der Welt und das gräßlich Drohende, wozu seine Wissenschaft auch noch unschuldig die Hand geboten, sein organisches Leiden gefördert, ja mit erzeugt und sein Leben verkürzt hat?

Er war aber der Mensch, der, im äußersten Augenblicke noch, gestützt auf seine mythische Autorität, sich dem Verhängnis entgegengeworfen haben würde. Und wenn heute unter allen Volkheiten, Farben und Religionen einmütige Trauer und Bestürzung sich zeigt bei der Meldung von seinem Tode, so bekundet sich darin das irrationale Gefühl, sein bloßes Dasein möchte es vermocht haben, der letzten Katastrophe den Weg zu verstellen.

In Albert Einstein starb ein Ehrenretter der Menschheit, dessen Namen nie untergehen wird.

Ganz im Sinne Einsteins forderten 1957 18 prominente Naturwissenschaftler in ihrem Göttinger Appell den Verzicht auf die atomare Bewaffnung der Bundeswehr. An den vielen Friedensinitiativen der Zeit beteiligten sich natürlich auch die Mitglieder der Gruppe 47. NIE WIEDER KRIEG! und Kampf dem Atomtod! waren die Parolen der Zeit. Gleichwohl wurde die Chance eines neutralen, vereinigten Deutschlands vertan und in Ost wie West die jeweilige Integration ins Reich der Freiheit bzw. ins Reich der Notwendigkeit betrieben. Das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den atomar aufgerüsteten Großmächten bewahrte die Menschheit in der Kuba-Krise 1962 nur knapp vor der letzten Katasprophe. Der Filmästhet Stanley Kubrick dramatisierte 1964 den Abstieg der Menschheit virtuos in seinem satirisch-grotesken Meisterwerk: Dr. Strangelove, or: How I learned to Stop Worrying and Love the Bomb. Nach dem Fall des eisernen Vorhangs zwischen Ost und West ist nur noch eine Supermacht übrig geblieben. Deren Missionseifer zur Beglückung der Menschheit durch den american way of life am Beginn des 21. Jahrhunderts ähnelt in fataler Weise dem Ausspruch der anti-napoleonischen Nationalisten in deutschen Landen des 19. Jahrhunderts: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen! Was mit dem Völkerbund begann und mit den United Nations fortgesetzt wurde, sollte nach wie vor in den sozialen Humanismus eines Weltstaates einmünden und die bürgerliche Demokratie zu überwinden trachten. Ganz so wie in Thomas Manns Rede Deutschland und die Deutschen von 1945 wäre heute sein Appell an Amerika und die Amerikaner zu richten. Ob aus der Niederlage heraus oder vom Siegerpodest herab, spielt dabei keine Rolle, wenn nur statt Faschismus Kommunismus, statt Deutschland Amerika gesetzt und das deutsche Wesen zur westlichen Zivilisation geweitet wird: Es könnte ja sein, daß die Liquidierung des Kommunismus den Weg frei gemacht hat zu einer sozialen Weltreform, die gerade Amerikas innersten Anlagen und Bedürfnissen die größten Glücksmöglichkeiten bietet. Weltökonomie, die Bedeutungsminderung politischer Grenzen, eine gewisse Entpolitisierung des Staatenlebens überhaupt, das Erwachen der Menschheit zum Bewußtsein ihrer praktischen Einheit, ihr erstes Ins-Auge-fassen des Weltstaates - wie sollte all dieser über die bürgerliche Demokratie hinausgehende soziale Humanismus, um den das große Ringen geht, der westlichen Zivilisation fremd und zuwider sein? Dieser schon von Kant ins Auge gefaßte Weg Zum ewigen Frieden wird auch weiterhin die Tagesordnung im Umgang der Völker und Nationen bestimmen.

Dem Weg zum Weltstaat aus der Einheit des Humanismus' entspricht der Weg zur Vereinheitlichung der Wissenschaft aus der Einheit der Natur. Steven Weinberg hat 1987 in seiner Dirac Memorial Lecture unter dem Tilel Towards the final laws of physics an Einsteins Vereinheitlichungsbemühungen angeknüpft und sie bis zur Theorie der Superstrings fortgeführt. Auf die kulturübergreifende Einheitssehnsucht in dem Bemühen um die Weltformel und den Weltstaat werde ich zurückkommen. Zuvor bleibt aber der Frage nachzugehen, wer als Nachfolger Thomas Manns infrage käme und welche Werke an das Schaffen des Großschriftstellers anknüpften und es weiterführten. Nach der Verleihung des Nobelpreises an Günter Grass 1999 dürfte das Urteil darüber leicht fallen. Dabei teilt Grass mit Mann das Schicksal, von einem Literaturpapst geradezu verfolgt und verrissen worden zu sein. So ist 1997 in der Zeitschrift Text + Kritik folgende Verlautbarung des Großkritikers Reich-Ranicki zu lesen: Groß ist die Zahl seiner literarischen Fehlschläge, kühn und kurios sind seine politischen Verlautbarungen, seine beschwörenden Warnungen und düsteren Prophezeiungen. Was immer er schreibt und verkündet, wird, nun schon seit vielen Jahren, beanstandet und belächelt, gerügt und gegeißelt. Ignoriert wird es nicht. Sein Thron wackelt bedenklich und ist doch nicht ernsthaft gefährdet. Niemand scheint daran gelegen, ihm, Günter Grass, den Platz streitig zu machen, den er auf unserer literarischen Bühne einnimmt. Jedenfalls läßt der Ruhm von Günter Grass nur wenig nach: Er ist und bleibt Deutschlands erster und repräsentativer Schriftsteller. Und ebenso wie Mann erhielt auch Grass den Nobelpreis für sein Erstlingswerk: Die Blechtrommel von 1959.

Die ironisch-satirische Groteske kann dem magischen Realismus der Zeit zugeordnet werden. Symbolische Verweise und Anspielungen auf andere Autoren unterlaufen den oberflächlichen Realismus ebenso wie bei Mann. Statt einer ausgeklügelten Montagetechnik bedient sich Grass aber eher der assoziativen Kollage und zählt damit auch Döblin zu seinen Vorbildern. Die Trommel verweist auf einen Beziehungszusammenhang: auf Schreiben, Erinnern, Protest, auf Distanzschaffen und auf Refugium; sie verweist auf Oskar selbst als ,,Held`` eines Schelmenromans. Darüber hinaus aber wird sie durch ihre Farbe mit anderen Motivkomplexen des Romans verknüpft. Von Anfang an betont Günter Grass das ,,weißrot Gelackte`` der Blechtrommel. Soweit Heinz Gockel. Als Schelmenroman folgt Die Blechtrommel dem Krull, thematisch nimmt sie den Weg der Deutschen in den Faschismus auf. Das Phänomen des gedankenlosen Herden- und Hordenwesens hatten auch die Mann-Brüder Heinrich und Thomas behandelt: im Henri Quartre bzw. in den Josephsromanen. Im Faustus hatte Thomas Mann dann die musikalisch-mythologische Seelengeschichte der Deutschen komponiert. Grass dagegen verlegt den Blick vom erhaben-weltläufigen Groß- und Bildungsbürger in das naiv-miefige Milieu der Klein- und Spießbürger.

Den Faschismus als Kleinbürgertum in der Blechtrommel hat Helmut Koopmann untersucht: Der in seiner Dreijährigkeit steckengebliebene Trommler und Glaszersinger Oskar ist für ihn ein gelungenes Symbol der braunen Zeit: Die Dreijährigkeit ist alles andere als ein paradoxes Spiel mit einem literarischen Einfall: In ihr symbolisiert sich das graunhaft Steckengeblieben-Sein der Zeit in einem im eigentlichen Wortsinn verantwortungslosen Zustand. Infantilismus als Lebensform also, Grausamkeit als Haltung und Ausdruck einer Entwicklungsstufe, der man mit Marschmusik und Uniformen noch kommen konnte; es ist eine ausgeartete Kindlichkeit, die mit Oskar Matzerath auf die Bühne tritt: Aber eigentlich ist die Welt so, und Oskar, der vermeintlich Dreijährige, durchschaut sie gnadenlos. Kinder wühlen im Dreck, kochen Frösche und lösen Brausepulver im Speichel auf. In Ergänzung zu Manns hehrer Geistigkeit thematisiert Grass die rohe Natur des Kartoffelackers, auf dem sich eine Bäuerin schwängern läßt, indem sie einem Flüchtling unter ihren Röcken Zuflucht gewährt. Der Bildhauer und Zeichner Grass betont die erdige Dichte des Bunkerbetons am Atlantikwall und läßt den Obergefreiten Lankes am Vortag der Landung in der Normandie aus der Perspektive der Nachwelt über die ,,Schrägformationen`` der Bunkeranordnungen fabulieren: Guck mal einer an. Interessant. Möchte fast sagen, magisch, drohend und dennoch von eindringlicher Geistigkeit. Da hat sich ein Genie, womöglich das einzige Genie des zwanzigsten Jahrhunderts, eindeutig und für alle Zeiten ausgesprochen. Thomas Mann feierte am D-Day, dem 6. Juni 1944, zugleich seinen Geburtstag und - seine Geistigkeit. Aber nicht nur das Datum, sondern auch der Titel, den Lankes seinem ,,Kunstwerk`` gibt, klingt wie eine ironische Anspielung auf das Genie: Mystisch, Barbarisch, Gelangweilt.

Im Thomas Mann Jahrbuch 2001 geht es um deutschsprachige Romane des 20. Jahrhunderts, die politisch und kulturell eine Bilanz ihrer Zeit zu ziehen versuchen. Unter dem Titel Die Zaubertrommel formuliert Volker Neuhaus darin folgende Grundthese: Die ,,politische und kulturelle Bilanz``, die in der Blechtrommel gezogen wird, ist dominiert und präjudiziert von einer ontischen Bilanz, die in Grass' Gesamtwerk durchaus konstant bleibt. Grass stellt die Geistigkeit des Mannschen Überbaus gleichsam auf die Füße einer natürlichen Basis. Neuhaus belegt seine These mit vier Szenen aus der Blechtrommel:

1.
Dem Trommeln des Falters an der Glühlampe, die für Oskar bei seiner Geburt das Licht der Welt bedeutet. Der Falter wird dabei zugleich sein natürlicher Meister: Was sich als Leben ausgibt, ist von Anfang an Todeskampf.
2.
Dem Karfreitag des aalwimmelnden Pferdekopfes, an dem der Mutter aufgeht, daß ihr eigenes Leben nicht bloß Zufall und privates Unglück ist, sondern eingebettet ist im Kreislauf der natürlichen Weltordnung.
3.
Dem Tod der Mutter, die nicht nur am Aal, sondern auch am Leben und besonders an den Männern starb, korrespondiert die Beerdigung des Vaters. Zu ihm fällt Oskar, nachdem ihn ein Stein am Kopf getroffen hat, ins Grab und beginnt wieder zu wachsen, was er mit drei Jahren eingestellt hatte.
4.
Dem Fiebertraum vom absurden Karussell des Lebens zwischen Himmel und Hölle, Goethe und Rasputin, Apoll und Dionysos.

So wie dem Falter der Totentanz ums Licht zum Trommeln wird, so folgt Oskar mit seinem Trommeln dem Felix, indem er ein kleiner, das Chaos harmonisierender, die Vernunft in Rauschzustände versetzender Halbgott wird und ein Buch schreibt, das in höchster Artistik uns unsere condition humaine vor Augen führt und das Politische und das Kulturelle ins Ontische auflöst. Ähnlich wie Albert Einstein in der Physik, versuchte Günter Grass in der Literatur Erkenntnis- durch Seins-Kunst zu fundieren, während bei Thomas Mann stets der literarische Geist dominant blieb.

Wie Thomas Mann mit dem Faustus wieder zu seinem Erstling Buddenbrooks zurückgekehrt war, so hat auch Günter Grass 2002 Im Krebsgang wieder Die Blechtrommel nachhallen lassen. Der Danziger Grass kommt dabei der Zeit eher schrägläufig in die Quere, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen. James Cameron hatte 1997 in einem furios-melodramatisch und faszinierend-digitaltechnisch inszenierten Hollywoodfilm mit der Titanic das ganze Jahrhundert untergehen lassen. In der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 versank die Titanic nach Kollision mit einem Eisberg im Nordmeer. Etwa 1500 Menschen kamen im Eiswasser ums Leben. Mit der als unsinkbar geltenden Titanic ging nicht nur ein Schiff unter, sondern auch die Selbstherrlichkeit einer Technik, mit der sich Männer über die Natur meinten erheben zu können, fand im erhaben dahinströmenden Eisberg ihren Meister.

In der Blechtrommel suchen die Matzeraths ihr Heil im Keller, während ihre Nachbarn in letzter Minute an Bord eines ehemaligen KdF-Schiffes gegangen waren, um von Danzig nach Stettin zu gelangen. Im Krebsgang per Mausklick durchs Internet wurde allen interessierten Usern ein Datum in Erinnerung gerufen, das als Ausweis der Vorsehung gelten sollte. Was ich nur als bloßen Zufall zu erklären versucht hatte, hob den Funktionär Wilhelm Gustloff in überirdische Zusammenhänge: am 30. Januar 1945 begann, auf den Tag genau fünfzig Jahre nach der Geburt des Blutzeugen, das auf ihn getaufte Schiff zu sinken, und zwölf Jahre nach der Machtergreifung, ebenfalls auf den Tag genau, ein Zeichen des allgemeinen Untergangs zu setzen. Mit der Wilhelm Gustloff erfroren und ertranken rund 9000 Flüchtlinge im winterlichen Eiswasser der Ostsee, nachdem das ehemalige KdF-Schiff von Torpedos eines russischen U-Bootes getroffen worden war.

Ähnlich wie Cameron die Titanic stellt auch Grass die Gustloff um die Jahrtausendwende in den Zusammenhang allgemeinen Untergangs. Als Hoffnungsschimmer bieten beide nur die Perspektive vom Anbruch eines ,,Frauenzeitalters``, in dem die Extreme überzogener Technikbegeisterung und faschistischer Gewaltherrschaft keine Chance mehr haben sollten. Günter Grass fragt sich Im Krebsgang als Autor, warum er nicht nach Abschluß der Danziger Trilogie die Tragödie von der Versenkung der Wilhelm Gustloff literarisch aufgearbeitet habe: Gleich nach Erscheinen des Wälzers ,,Hundejahre`` sei ihm diese Stoffmasse auferlegt worden. Er - wer sonst? - hätte sie abtragen müssen, Schicht um Schicht. Denn an Hinweisen auf das Schicksal der Pokriefkes, Tulla voran, habe es nicht gefehlt. Zumindest sei zu erahnen gewesen, daß der Rest der Familie - Tullas beide älteren Brüder waren gefallen - zu den tausend und nochmal tausend Flüchtlingen gehörte, die zuallerletzt auf der überladenen Gustloff Platz gefunden hätten, mitsamt der schwangeren Tulla.

So wie Thomas Mann in seinen späten Jahren mit dem Faustus das altstädtisch-deutsche Milieu Lübecks wieder heraufbeschwört, um den deutschen Weg aus der romantischen Innerlichkeit in den nationalsozialistischen Faschismus nachzuzeichnen, tritt auch Günter Grass Im Krebsgang den Pfad durch die deutsche Geschichte im Danzig der Großmutter an. Gleichsam als Fortsetzung des Verfalls einer Familie arbeitet ihr Sohn dann als Journalist die Schiffskatastrophe der Gustloff auf, die er schon als Embryo überlebt hatte, und muß fassungslos verfolgen wie sein Sohn in die Fänge der Neonazis gerät und zum Mörder an einem Juden wird, der das Denkmal des Blutzeugen ,,entweiht`` hatte. Grass beschließt seine Novelle mit den Worten: Das hört nie auf. Nie hört das auf.

Auch das Terror-Regime des Mittelmaßes hört nie auf. Im Gespräch mit Joachim Köhler äußert sich Günter Grass am 17. Aug. 1995 im Stern über Thomas Mann: Ich lese heute, wie zum Beispiel über Thomas Mann hergezogen wird ... Man mokiert sich darüber, daß er ehrgeizig gewesen sei, daß er sich immer pünktlich an den Schreibtisch gesetzt habe, daß er ein Homosexueller war und so weiter. Man muß sich fragen, wie diese geschilderte Person namens Thomas Mann Romane wie den ,,Zauberberg`` oder ,,Doktor Faustus`` oder die Josephsbücher zu schreiben imstande gewesen sein soll. Es ist eine ungeheure Anmaßung, es ist das Terror-Regime des Mittelmaßes, das Lust dabei empfindet, einen großen Schriftsteller auf die Skandalnudel-Größe zu reduzieren. Die Volksherrschaft deregulierter Demokratie hat bereits dazu geführt, daß nicht etwa ein Künstler oder Wissenschaftler, Manager oder Politiker im Jahr 2002 des Deutschen liebstes Kind war, sondern der Fußballer Oliver Kahn. So weit trieben es noch nicht einmal die Amerikaner, die immerhin den Topmanager Bill Gates zu ihrem Vorbild kürten.

Der Aufstieg vom Computer-Kid zum reichsten Mann der Welt ist eine Verwirklichung des american dream, der allerdings 2001 einigen Korrekturen unterzogen wurde. Hundert Jahre nach den Buddenbrooks legte Jonathan Franzen mit The Corrections die amerikanische Variante vom Verfall einer Familie vor, und zwar unter dem Leitthema der Korrekturen. Auch Franzen hebt an mit einer ironischen Verfremdung der Religion, aber nicht in der Variante des heiter-altersweisen Großvaters, sondern in Erwartung des Aufzugs einer Kaltfront: The madness of an autumn prairie cold front coming through. You could feel it: something terrible was going to happen. The sun low in the sky, a minor light, a cooling star. Gust after gust of disorder. Trees restless, temperature falling, the whole nothern religion of things coming to an end ... Three in the afternoon was a time of danger in these gerontocratic suburbs of St. Jude. Alfred had awakened in that great blue chair in which he'd been sleeping since lunch. He'd had his nap and there would no local news until five o'clock. Two empty hours were a sinus in which infections bred. He struggled to his feet and stood by the Ping-Pong table listening in vain for Enid. Alfreds Gattin Enid wünscht sich ein letztes Weihnachtsfest mit der ganzen Familie im trauten Heim, einschließlich aller Kinder und Enkel ... und das Schicksal nimmt seinen verhängnisvollen Lauf: Zu korrigieren gilt es die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, die Rücksichtslosigkeit der Umwelt gegenüber, die Entwürfe von Drehbüchern, die Gewinnerwartungen von Aktiengesellschaften im Bereich der Biotechnologie, die Marktzyklen, das familiale Rollenverhalten bis hin zur - eigenen Persönlichkeit.

Wie schon Thomas Mann bezieht sich auch Franzen auf Schopenhauer. Eingedenk seines Nihilismus' gibt es Grenzen für Korrekturen; denn was Korrekturen möglich macht, vereitelt sie zugleich. Und wirtschaftliche Trainingsprogramme sollen vor unerwarteten Korrekturen der Marktzyklen schützen. Aber nach dem Fall des neuen Marktes gab es kein Halten mehr. Auch Franzens Buch endet mit dem Ausblick auf das Zeitalter der Frau. Nachdem all ihre Korrekturen am Leben ihres Mannes vergeblich geblieben waren, beschließt sie an seinem Totenbett, endlich ihr eigenes Leben zu ändern: All of her corrections had been for naught. He was as stubborn as the day she'd met him. And yet when he was dead, when she'd pressed her lips to his forehead and walked out with Denise and Gary into the warm spring night, she felt that nothing could kill her hope now, nothing. She was seventy-five and she was going to make some changes in her life.

Rose folgte ihrem Herzen von der 1. in die 3. Klasse der Titanic - und nahm ihr Leben fortan selbst in die Hand. Tulla überlebte schwanger den Untergang der Gustloff und drängte ihren Sohn zur Niederschrift des Flüchlingsdramas im Eiswasser. Und ebenso Enid, die noch im Greisenalter ihr Leben zu ändern vermag. Der technische Größenwahn und die aristokratische Kälte, der Kriegsterror der Vergeltung und das monogame Ehe-Gefängnis waren die Leiden der Frauen im 20. Jahrhundert, von denen sich Rose, Tulla und Enid zu befreien wußten. Katia Mann dagegen bekannte in ihren Memoiren: Ich habe in meinem Leben nie tun können, was ich hätte tun wollen. Weder in der Förmlichkeit der Familienverfassung noch in der Strenge der ästhetischen Prinzipien Thomas Manns ist Günter Grass seinem Vorgänger gefolgt. Katia hatte ihre Studien der Mathematik, Physik und Kunstgeschichte zugunsten der großbürgerlichen Ehe aufgegeben und sich fortan ganz dem Management des Großschriftstellers gewidmet. Günters Ehen dagegen glichen eher Boheme-Liebschaften, in denen die Frauen natürlich weiterhin ihren eigenen künstlerischen Interessen nachgehen konnten und die Kinder gemeinsam erzogen wurden.

Im Anknüpfen an die assoziative Kollagetechnik Döblins ist mit der Blechtrommel eine literarische Analogie zur Preisgabe des klassischen Realismus durch die Rolle der Statistik in der Quantenmechanik als Grundlage der modernen Physik zu sehen. Wie weit derartige Analogien reichen und ob sie überhaupt sinnvoll sind, wird zu problematisieren sein. Welche Einsichten aus den Leben und Werken Einsteins und Manns und ihrer Nachfolger über den Zusammenhang der beiden Kulturen hinaus für die Lebensformen und Erkenntnis-Kulturen des Zusammenlebens der Menschen, Völker und Nationen gewonnen werden können, wird im nächsten Kapitel thematisiert.


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Ingo Tessmann
6/9/2003