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Kosmische Religiösität und metaphysische Allsympathie

Am 11. Nov. 1930 schreibt Einstein im Berliner Tageblatt über Religion und Wissenschaft. Nach den Furcht- und Moralreligionen charakterisiert er dabei die dritte Entwicklungsstufe als kosmische Religiösität: Nur besonders reiche Individuen und besonders edle Gemeinschaften vermögen sich zu ihr hinaufzuschwingen; denn das Individuum fühlt die Nichtigkeit menschlicher Wünsche und Ziele und die Erhabenheit und wunderbare Ordnung, welche sich in der Natur sowie in der Welt des Gedankens offenbart. Es empfindet das individuelle Dasein als eine Art Gefängnis und will die Gesamtheit des Seienden als ein Einheitliches und Sinnvolles erleben. Da die kosmische Religiösität ohne Gottesbegriff auskomme, könne sie nur über Kunst und Wissenschaft mitgeteilt werden, deren Funktion darin bestehe, jenes Gefühl unter den Empfänglichen zu erwecken und lebendig zu erhalten.

In einem Beitrag zu dem Symposium ,,Science, Philosophy and Religion`` greift Einstein 1941 das Thema Naturwissenschaft und Religion wieder auf. Ein religiöser Mensch, wie Buddha oder Spinoza, ist ihm danach einer, der sich nach seinem besten Vermögen von den Fesseln seiner selbstischen Wünsche befreit hat und erfüllt ist von Gedanken, Gefühlen und Bestrebungen, an denen er hängt, um deren außerpersönlichen Wertes willen. Als höchster ,,außerpersönlicher Wert`` gilt dem Physiker dabei die Größe der im Seienden verkörperten Vernunft. Denn der Naturforscher gelangt auf dem Wege des Begreifens zu einer weitgehenden Befreiung von den Fesseln des persönlichen Wünschens und Hoffens und zu jener demütigen Einstellung des Gemüts gegenüber der in ihren letzten Tiefen dem Menschen unzugänglichen Größe der im Seienden verkörperten Vernunft. Im Gegensatz zum Literaten, der den Geist der Natur entgegensetzte, verkörpert für den Physiker die Natur bereits den Geist. Das gilt auch für die innere Natur des Menschen. Vergeistigung der Natur meint dann bloß eine Art nachahmender Weitervergeistigung im menschlichen Bewußtsein. Dabei verdanken die feiner Besaiteten der Vergeistigung ihrer Gefühle und der Beseelung ihrer Gedanken die subtilsten Freuden, deren ein Mensch fähig ist: die Freude an der Schönheit von Kunstwerken und von logischen Gedankengängen, schreibt der Weltweise 1938 in Aus meinen späten Jahren.

Die Freuden bei der Beseelung seiner Gedanken zur Vergeistigung der Natur erreichten ihren Höhepunkt bei seinem Durchbruch zur Allgemeinen Relativitätstheorie (ART). Folgen wir einigen Seiten seiner zusammenfassenden Arbeit Die Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie aus den Ann. d. Phys. von 1916. Die Gründe für eine Erweiterung der speziellen Relativitätstheorie (SRT) folgert er darin aus einem schwerwiegenden erkenntnistheoretischen Argument und einer wohlbekannten physikalischen Tatsache: dem Mach'schen Prinzip und dem Äquivalenzprinzip. Damit das ,,Kausalitätsgesetz`` in der Mechanik wirklich gelte, fordert das Genie im allgemeinen Relativitätsprinzip: Die Gesetze der Physik müssen so beschaffen sein, daß sie in bezug auf beliebig bewegte Bezugssysteme gelten. Und da uns die Erfahrung die Existenz eines Kraftfeldes (nämlich des Gravitationsfeldes) gelehrt habe, welches die merkwürdige Eigenschaft hat, allen Körpern dieselbe Beschleunigung zu erteilen, sehe man daß die Durchführung der allgemeinen Relativitätstheorie zugleich zu einer Theorie der Gravitation führen muß; denn man kann ein Gravitationsfeld durch bloße Änderung des Koordinatensystems ,,erzeugen``. Die mathematische Präzisierung des allgemeinen Relativitätsprinzips läuft dann auf die Forderung hinaus: Die allgemeinen Naturgesetze sind durch Gleichungen auszudrücken, die für alle Koordinatensysteme gelten, d.h. die beliebigen Substitutionen gegenüber kovariant (allgemein kovariant) sind. Diese ,,Invarianzforderung`` bzgl. beliebiger Koordinatensysteme bildet den Kern der gesamten Theorie und wird auch Einstein-Invarianz genannt. Aus der Voraussetzung, daß die ART für unendlich kleine vierdimensionale Gebiete in die SRT übergehe, folgert Einstein dann mit den tensoranalytischen Verfahren der Differentialgeometrie aus der Invarianz des Linienelements mit Hilfe des Hamiltonschen Extremalprinzips die Geodätengleichung für die geradeste Linie:

\begin{displaymath}
{{d^2 x_{\tau}} \over {ds^2}} = 
 \Gamma^{\tau}_{\mu \nu} {{d x_{\mu}} \over {ds}} {{d x_{\nu}} \over {ds}}\end{displaymath}

Mit $\Gamma^{\tau}_{\mu \nu}$ als das Christoffel-Symbol für den affinen Zusammenhang. Und ebenfalls unter Anwendung des Hamiltonschen Extremalprinzips leitet er nachfolgend die allgemeine Fassung der Feldgleichungen der Gravitation her und beschließt seine Arbeit mit der Behandlung der Perihelbewegung der Planetenbahnen.

In seinen Grundzügen der Relativitätstheorie von 1956 gibt Einstein eine didaktisch orientierte Einführung in die gesamte Relativitätstheorie, beginnend mit Raum und Zeit in der vorrelativistischen Physik und endend mit einem Anhang über die relativistische Theorie des nichtsymmetrischen Feldes. Der Physiker hebt an mit einer grundsätzlichen Bestimmung der Wissenschaft: Alle Wissenschaft, sei es Naturwissenschaft oder Psychologie, sucht in gewisser Weise unsere Erlebnisse zu ordnen und in ein logisches System zu bringen. Und er fragt sich sogleich: Wie hängen die geläufigen Ideen über Raum und Zeit mit dem Charakter unserer Erlebnisse zusammen? Die erste Annäherung an die ,,Realität`` nimmt er aus dem ,,überpersönlichen Charakter`` einiger Erlebnisse an: Jenen sinnlichen Erlebnissen verschiedener Individuen, welche einander entsprechen und demnach in gewissem Sinne überpersönlich sind, wird eine Realität gekanklich zugeordnet. Wichtig dabei ist es dem Naturforscher Einstein, den Erfahrungsbezug der Begriffsbildungen im Auge zu behalten, auch wenn es sich um ordnendes Denken handelt: Begriffe und Begriffssysteme erhalten die Berechtigung nur dadurch, daß sie zum Überschauen von Erlebniskomplexen dienen; eine andere Legitimation gibt es für sie nicht. Es ist deshalb nach meiner Überzeugung eine der verderblichsten Taten der Philosophen, daß sie gewisse begriffliche Grundlagen der Naturwissenschaft aus dem der Kontrolle zugänglichen Gebiete des Empirisch-Zweckmäßigen in die unangreifbare Höhe des Denknotwendigen (Apriorischen) versetzt haben. Die weiteren Annäherungen an die Realität nimmt Einstein dann im Rahmen der Geometrie vor. Dabei ist es ihm wichtig, den Grundbegriffen der Geometrie Naturobjekte zuzuordnen; denn ohne eine solche Zuordnung ist die Geometrie für den Physiker gegenstandslos. Für den Physiker hat es daher wohl einen Sinn, nach der Wahrheit bzw. dem Zutreffen der geometrischen Sätze zu fragen. Innerhalb der jeweiligen Geometrie sei es bloß noch eine Aufgabe der Invariantentheorie, zu fragen, nach welchen Gesetzen sich aus gegebenen Tensoren neue bilden ließen. Je nach ,,Invarianzforderung`` entstehen so die jeweiligen Geometrien, die eine je verbesserte Zuordnung zu den Naturobjekten zulassen:

Von der Erlebnisinvarianz zur Relativitätstheorie

Invarianz Geometrie Theorie
Erlebnisinvarianz Anschauungsraum Gesunder Menschenverstand
Galilei-Invarianz Euklidische Geometrie Newtonsche Mechanik
Lorentz-Invarianz Minkowskische Geometrie Spez. Relativitätstheorie
Einstein-Invarianz Riemannsche Geometrie Allgem. Relativitätstheorie

Die Invarianzforderungen sind das entscheidende Kriterium für den Strukturreichtum der Geometrie wie der physikalischen Theorie.

Den Weg zur Felgleichung der ART beschreibt Einstein in den Grundzügen ausgehend von der Poissonschen Gleichung der Newtonschen Gravitationstheorie, nach der das Gravitationsfeld $\varphi$ durch die Massendichte $\varrho$ bestimmt wird:

\begin{displaymath}
\Delta \varphi = 4 \pi k \varrho \end{displaymath}

Mit k als Gravitationskonstante. Aber lassen wir das Genie selber zu Wort kommen: Wenn es ein Analogon der POISSONschen Gleichung in der allgemeinen Relativitätstheorie gibt, so muß dies eine Tensorgleichung für den Tensor $g_{\mu \nu}$ des Gravitationspotentials sein, auf deren rechter Seite der Energietensor der Materie figuriert. Auf der linken Seite der Gleichung muß ein Differentialtensor aus den $g_{\mu \nu}$ stehen. Diesen Differentialtensor gilt es zu finden. Er ist völlig bestimmt durch folgende drei Bedingungen:

1.
Er soll keine höheren als zweite Differentialquotienten der $g_{\mu \nu}$ enthalten.
2.
Er soll in diesen zweiten Differentialquotienten linear sein.
3.
Seine Divergenz soll identisch verschwinden.

Die ersten beiden dieser Bedingungen sind natürlich der POISSONschen Gleichung entnommen. Da sich mathematisch erweisen läßt, daß alle derartigen Differentialtensoren algebraisch (d.h. ohne Differentiation) aus dem RIEMANNschen sich bilden lassen, so muß jener Tensor von der Form sein:

\begin{displaymath}
R_{\mu \nu} + \alpha g_{\mu \nu} R\end{displaymath}

Es läßt sich ferner beweisen, daß die dritte Bedingung verlangt, daß $\alpha$ den Wert $- {1 \over 2}$ erhält. So ergibt sich als Feldgesetz der Gravitation die Gleichung

\begin{displaymath}
R_{\mu \nu} - {{1\over 2} g_{\mu \nu} R} = - \kappa T_{\mu \nu}\end{displaymath}

Hierbei bedeutet $\kappa$ eine Konstante, welche mit der Gravitationskonstante der NEWTONschen Theorie zusammenhängt.

An der formalen Einfachheit und Reichhaltigkeit seiner Feldgleichungen orientierte Einstein fortan seinen Maßstab der Vollkommenheit. Sie blieben ihm zeitlebens die weitestgehenden Annäherungen an die Größe der im Seienden verkörperten Vernunft. Die moderne Quantenlehre dagegen führte er 1935 mit seinen Kollegen Podolsky und Rosen in eine Paradoxie, die zugleich als Parodie der unwirklich-illusionären Quantenmechanik Heisenbergs gelesen werden kann: Kann man die quantenmechanische Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit als vollständig betrachten? Folgende Kurzfassung stellten die Physiker ihrer in den Phys. Rev. veröffentlichten Arbeit voran: In einer vollständigen Theorie gibt es zu jedem Element der Realität stets ein entsprechendes Element. Eine hinreichende Bedingung für die Realität einer physikalischen Größe ist die Möglichkeit sie vorherzusagen, ohne das System zu stören. In der Quantenmechanik schließt im Falle von zwei physikalischen Größen, die durch nicht-kommutierende Operatoren beschrieben werden, das Wissen von der einen das Wissen von der anderen aus. Damit ist entweder (1) die Beschreibung der Realität, die durch die Wellenfunktion in der Quantenmechanik gegeben wird, nicht vollständig oder (2) diesen beiden Größen kann nicht gleichzeitig Realität zukommen. Die Betrachtung des Problems, Vorhersagen bezüglich eines Systems auf der Grundlage von Messungen zu machen, die an einem anderen System, das zuvor mit dem ersteren in Wechselwirkung stand, ausgeführt wurden, führen zu dem Ergebnis, daß wenn (1) falsch ist, dann auch (2) falsch ist. Man wird so zu dem Schluß geführt, daß die Beschreibung der Realität, wie sie von der Wellenfunktion geleistet wird, nicht vollständig ist. Das saß! Die Autoren (EPR) messen die Quantenmechanik (QM) an dem Realismus, der Lokalität und der Vollständigkeit der SRT. Unter der Voraussetzung des Realitätskriteriums kann die QM nur entweder nichtlokal oder unvollständig sein. Auf die weitreichenden theoretischen und experimentellen Folgen dieser zwingenden Logik werde ich zurückkommen. Die Preisgabe des Realitätsprinzips wäre für Einstein jedenfalls einem Abgleiten in die unwirklich-illusionäre Theorie von ,,Gespensterfeldern`` gleichgekommen. Die Quantenphysiker mögen dem Weltweisen gar als Hochstapler erschienen sein und die Allsympathie des Naturkundlers Kuckuck aus dem Krull wird uns an die kosmische Religiösität Einsteins denken lassen.

Damit bin ich unversehens wieder beim Literaten gelandet. Der Erkenntnis-Kunst Einsteins im Folgern der Geometrien aus den jeweiligen Invarianzforderungen entspricht dabei die Erkenntnis-Kunst Manns im Gestalten der Kompositionen aus der jeweiligen Strenge des Satzes. Invarianzforderung und Satzstrenge sind einschränkende Prinzipien, die jeweils strukturbildend auf die Theorie bzw. den Roman wirken. Dem Faustus ist dabei eine Selbstbezüglichkeit der Komposition eigen, die auch der Riemannschen Geometrie innewohnt. Dem Schaffen Leverkühns, erzählt von Zeitblom und reihentechnisch gestaltet von Mann ist das Wirken der Gravitation im Rahmen der Riemannschen Geometrie nach Maßgabe der Einstein-Invarianz analog.

Von der Sprachdisposition zum Doktor Faustus

Satzstrenge Komposition Roman
Sprachdisposition Umgangssprache Geschichten
Leitmotiv-Technik Ring des Nibelungen Buddenbrooks
Mythopoesie Musikalisch-ideelles Sinngeflecht Der Zauberberg
Reihentechnik Faust-Kantate Doktor Faustus

Nach Abschluß seiner ,,Lebensbeichte`` begann Thomas Mann wieder an den Hochstapler-Bekenntnissen zu schreiben. Die heiter-verspielten Anfänge gerieten ihm allerdings zur grundsätzlichen Lebensäußerung. Und so zählt Helmut Koopmann den Krull auch zu den Meisterwerken der Literatur schlechthin, zugleich Schelmenroman, autobiographischer Roman, Bildungs- und Entwicklungsroman, mythologischer Roman, Emigrationsroman sowie Fortsetzung des Faust-Stoffes und Abwandlung von Dichtung und Wahrheit. Hans Wysling stellt die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull in den Zusammenhang der Narzißmusforschung: Alles, was Thomas Mann geschrieben hat, dient der Analyse und Beurteilung, der Kritik und der Feier des eigenen Selbst - immer in der Meinung, daß Aufschlüsse über das ,,problematische Ich`` auch in Aufschlüssen über die Problematik der Zeit zu führen vermögen. Sein Werk handelt vom Leiden und vom Triumpf eines Narziß.

Im Anschluß an Schopenhauer unterteilt und interpretiert Wysling die frühe Welt des ,,Künstler-Kindes`` Krull nach folgender Gegenüberstellung:

Die Welt als Wille und Vorstellung

Die Welt als Wille Die Welt als Vorstellung
Felix Maja
Morpheus Histrio
Eros Proteus
Narziß Heros
Prospero Theatrum mundi

Als Glückskind und Götterliebling Felix hatte sich Thomas Mann schon in dem Prinzenmärchen Königliche Hoheit gefeiert. Dabei sind sich Fürst und Hochstapler ihrer illusionären Rolle jeweils wohl bewußt; während aber der Aristokrat in sie gedrängt wird, maßt der Hochstapler sie sich an. Die abendliche Heimkehr in den Schoß der Nacht, in der die Welt Traum wird und aus der die Welt wieder wie aus einem Traum erwacht, hatte Mann alias Morpheus bereits in Süßer Schlaf thematisiert. Die Einheits- und Vermischungssehnsucht des Eros im Krull reicht von der Selbstverliebtheit über die Bisexualität bis hin zur Allsympathie. Die Selbstliebe galt Thomas Mann als Beginn eines romanhaften Lebens. Und Im Spiegel hatte sich der Narziß selbst parodiert. Wie Shakespeares Magier und Zauberer Prospero geschieht die ,,Rettung des Narziß`` durch die Magie und den Zauber der Sprache: Mit Hilfe seiner Kunst gelingt es ihm, den Narzißmus von der eigenen Person abzulösen und auf das Werk zu verschieben. Sowohl Schopenhauer als auch Mann haben gerne aus dem Tempest zitiert:

We are such stuff

As dreams are made of,

And our little life is rounded with a sleep.

Dem illusionären Charakter des Lebens hatte Thomas Mann seit 1904 in seinem Maja-Projekt einen Gesellschaftsroman widmen wollen. Schopenhauer zitiert zur Maja eine Weisheit aus den Veden des alten Indien: Es ist die Maja, der Schleier des Truges, welcher die Augen der Sterblichen umhüllt und sie eine Welt sehen läßt, von der man weder sagen kann, daß sie sei, noch auch, daß sie nicht sei: denn sie gleicht dem Traume, gleicht dem Sonnenglanz auf dem Sande, welchen der Wanderer von ferne für ein Wasser hält, oder auch dem hingeworfenen Strick, den er für eine Schlange ansieht. Nicht nur die primitiven Gefühle, wie Bosheit und Neid, sondern auch die Sehnsucht und das Verlangen, das Weltbegehren schlechthin - entstammen der Täuschung der Vielheit. Im Histrio wird die Welt zum Theater, das eigene Leben zu Schauspiel und Nachahmung; eine Entwicklung, die Thomas Mann bereits mit den Puppenspielen in seiner Kindheit beginnt. Das Rollendasein und den Identitätsverlust im Proteus inszeniert der Schriftsteller mit den Maskeraden und dem mythologischen Mummenschanz ebenso in den Kinderspielen. Als Proteus demonstriert Krull dann die Illusion der Vielheit (Maja). Als Heros trägt Felix Krull auch Züge Thomas Buddenbrooks und Gustav Aschenbachs. Denn bei Thomas Mann ist der Heros ein ,,gespannter`` Held und er zweifelt daran, ob es überhaupt einen anderen Heroismus gäbe als denjenigen der Schwäche. In einem Brief an Kurt Martens schreibt er im März 1906: Heldenthum ist für mich ein ,,Trotzdem``, überwundene Schwäche, es gehört Zartheit dazu. Gesellschaftskritik und Utopie, das Theatrum mundi, spielen im Werk Thomas Manns eine untergeordnete Rolle; gleichwohl sind sie implizit immer präsent, auch wenn der Autor den Krull anläßlich einer Lesung als Nachfolger des autobiographischen Bildungs- und Entwicklungsromans charakterisiert. Denn gerade ein Hochstapler durchschaut die Scheinhaftigkeit und die Zufälligkeit der sozialen Rollenverteilung auf der Bühne des Menschentheaters.

Neben den Aspekten der Willens- und Vorstellungswelt durchziehen Travestie und Parodie die Bekenntnisse. Bereits in seiner selbstironisch-karikaturistischen Studie Im Spiegel von 1907 klingen diese Kunstformen mit narzißtischen Bezügen an. Und das Prinzenmärchen Königliche Hoheit kann dann ebenso als Künstlertravestie gelesen werden wie die Hochstapler-Bekenntnisse des Felix Krull. Im Zuge seiner Hinwendung zur Klassik tritt an die Stelle von Wagner nunmehr Goethe, und so sind die Bekenntniss auch als Parodie auf Dichtung und Wahrheit angelegt. Zur Anverwandlung der Hochstapler-Memoiren Manolescus hat sich Thomas Mann einige Notizen gemacht. Danach war das Werk auf sechs Teile angelegt, von denen in der ersten Schaffensperiode aber nur das Jugend-Kapitel bewältigt wurde und in der zweiten Produktionsphase lediglich der Anfang der Reise aus dem zweiten Teil begonnen werden konnte. Als mythisches Substrat griff Thomas Mann in der Frühphase seiner Arbeit am Krull auf das ,,Märchen vom Glückskind`` zurück, während die Spätphase seines Schaffens der Hermes-Mythos bestimmt. An die Stelle der Hochstapler-Memoiren tritt später der Schelmenroman Simplicissimus. Für Details sei auf die Studie Wyslings verwiesen.

Über die Gründe, warum Thomas Mann die Arbeit an den Bekenntnissen zweimal unterbrochen hatte, zuerst zugunsten der Venedig-Novelle, dann zugunsten des Zauberbergs, ist viel zitiert und spekuliert worden. Hauptgründe mögen wohl gewesen sein, daß ein Hochstapler-Roman zunächst nicht seiner Hinwendung zur Klassik entsprach und während des 1. Weltkrieges dann nicht mehr zeitgemäß war. Nach Abschluß des Doktor Faustus und dem Ende des 2. Weltkrieges, schien es Thomas Mann endlich wieder geraten, die Illusionsthematik erneut aufzunehmen (Der Erwählte, Die Betrogene) und die Imitatio Goethes weiter zu führen. Das tragisch-mythische Einsamkeitsmotiv aus Goethes Faust verwandelte Mann dabei ins humoristisch-kriminelle, wobei er jeweils Fausts und Krulls Reise in die Tiefen der Erkenntnis parallelisierte, wie Koopmann hervorhebt. Und Wysling faßt zusammen: Am Ende geht es Thomas Mann nicht mehr um eine Durchleuchtung des prekären Künstlertums, sondern um die Erkenntnis menschlicher Möglichkeiten und Grenzen allgemein. Zur Übersicht möchte ich Wyslings Zusammenstellung der Anverwandlungen durch Travestie und Parodie in einigen Werken Thomas Manns anfügen:

Travestien und Parodien in Werken Thomas Manns

Krull (Frühphase) Doktor Faustus Der Erwählte Krull (Spätphase)
Manolescu Nietzsches Leben Gregorius Simplicissimus
Dichtung und Wahrheit Faustus-Volksbuch Gesta Romanorum Walpurgisnacht
Glückskind Luzifer Ödipus Hermes

Seit der frühen Beschäftigung mit der Beziehung zwischen Künstler und Hochstapler im Tonio Kröger von 1903 und dem letzten Fragment der Bekenntnisse aus dem Jahre 1954 ist über ein halbes Jahrhundert vergangen. Die Behandlung der ,,Hochstapelei`` des Künstlers kann damit als das Lebenswerk Thomas Manns angesehen werden. Zum Abschluß meiner Betrachtungen zu den Erkenntnisweisen der beiden Geistesheroen sei zusammenfassend beim letzten Roman des Erkenntnis-Künstlers Mann verweilt. Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull umfassen drei Bücher. Im ersten Buch wird die Chronik der Kindheit und Jugend des Glückskindes Felix erzählt. Und so lassen wir sie beginnen: Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Muße und Zurückgezogenheit - gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (so daß ich wohl nur in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärtsschreiten können), indem ich mich also anschicke, meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen, beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung und Schule denn auch gewachsen bin. Erst in der völligen Muße und Zurückgezogenheit des Gefängnisses ist es dem Lebenskünstler möglich, auf seine Abenteuer zurückzublicken. Die Zweifel an seinem Unternehmen verflüchtigen sich schnell, da es ihm um die eigensten und unmittelbarsten Erfahrungen gehe und er seinen Stoff also vollkommen beherrsche. Indem Mann Krull erwähnen läßt, daß der Rheingau ihn hervorgebracht habe, spielt er für den Literaturkenner natürlich auf Goethe an.

Insgesamt könnte das erste Kapitel die Überschrift tragen: Ich gebe dem Publikum, woran es glaubt. Dieser Spruch des Vaters und Schaumwein-Fabrikanten kennzeichnet zugleich das Motto des Lebenskünstlers wie des komödiantischen Nur-Künstlers, sei es als Wunderkind, Schauspieler oder Zirkusartist. Und alle gleichermaßen trifft das Urteil des Paten Schimmelpreester über den Sekt des Fabrikanten: Ihre Person in Ehren, aber ihren Champagner sollte die Polizei verbieten - ebenso wie den schlechten Geschmack und den Kitsch, könnte man hinzufügen. Im zweiten Kapitel fragt sich Felix in wiederholter Grübelei: Was ist förderlicher, daß man die Welt klein oder daß man sie groß sehe? Die Antwort des Glückskindes läßt nicht lange auf sich warten: Übrigens habe ich es unwillkürlich und meiner Natur gemäß stets mit der zweiten Möglichkeit gehalten und die Welt für eine große und unendlich verlockende Erscheinung geachtet, welche die Seligkeiten zu vergeben hat und mich jeder Anstrengung und Werbung in hohem Grade wert und würdig deuchte. Im dritten Kapitel beschwört Thomas Mann die Atmosphäre Travemündes herauf, wenn er im Pavillon an der Promenade zu Langenschwalbach den achtjährigen Felix zum Wunderkind stilisiert, dessen ganze rührende und wunderbare Erscheiung die Herzen des Publikums entzückte. Das vierte Kapitel ist dem Paten Schimmelpreester gewidmet, dem die Natur seinem Namen nach nichts als Fäulnis und Schimmel ist. Vom Theaterbesuch handelt das fünfte Kapitel und variiert das Verführungsmotiv in der Person des Schauspielers Müller-Rose, der Lebensfreude verbreitete. Bei seinen Bewunderern bestand dabei Einmütigkeit in dem guten Willen, sich verführen zu lassen. Die Schulkrankheit Felixens ist Thema des sechsten Kapitels. Der Widerwille gegen die Schule eint Krull, Mann und Einstein gleichermaßen; denn die Bedingung, unter der ich einzig zu leben vermag, ist Ungebundenheit des Geistes und der Phantasie, läßt Thomas Felix bekennen. Ob seiner ,,Schulmigräne`` schreibt ihn ein befreundeter Arzt des Vaters zum Glück immer wieder ,,schulkrank``, so daß sich Felix der Liegekur süßen Schlafes hingeben und in sanftem Schlummer alle Unbill vergessen kann. Das siebente Kapitel ist den Kinderstreichen gewidmet, die ein Moralist als gemeinen Diebstahl anprangern würde. Im achten Kapitel outet Felix sein lange gehütetes, köstliches Geheimnis, das schon an der Brust seiner Amme begann und das er mit Namen wie Das Beste oder Die große Freude umschrieb. Unser Glückskind protzt dabei unverhohlen mit seiner Potenz: In der Tat grenzte meine Begabung zur Liebeslust ans Wunderbare; sie übertraf, wie ich noch heute glaube, das gemeine Ausmaß bei weitem. Eine ans Wunderbare grenzende Liebeslust mag dem Leben eine sinnliche Basis für erotische Freundschaften geben, die wohltemperiert frostige Gefühlskälte wie überhitzte Treueschwüre vermeiden. Das erste Buch endet mit dem neunten Kapitel und handelt vom Ende des lebenslustigen Vaters, der nach dem Falliment seiner Schaumwein-Fabrik auch seinem Leben ein Ende machte.

Das zweite Buch beginnt damit, daß sich unser Glückskind eine gewisse feine Eindringlichkeit und edle Wahrhaftigkeit attestiert, die seine Bekenntnisse ironisch zu Dichtung und Wahrheit stilisieren. Im zweiten Kapitel sieht Felix das Leben als eine uns gestellte Aufgabe an, der man nachzukommen habe und nicht vor der Zeit entlaufen dürfe. Als Sohn eines Bankrottierers und Selbstmörders, verkommen als Schüler und ohne jede achtbare Lebensaussicht bildet Felix seine Neigung zur Weltflucht und Menschenscheu weiter aus. In seinen Grübeleien fällt es ihm schwer, zwischen natürlichem und moralischem Verdienst strikt zu unterscheiden. Und er beschließt das Kapitel mit dem Motto: Wer die Welt recht liebt, der bildet sich ihr gefällig. Mit der Aussicht auf eine Anstellung in einem Pariser Luxushotel tut sich dann die große Welt vor ihm auf. Die Warte- und Mußezeit bis zur Abreise nutzt der Jüngling zu seiner weiteren Vervollkommnung; denn Bildung wird nicht in stummpfer Fron und Plackerei gewonnen, sondern ist ein Geschenk der Freiheit und des äußeren Müßigganges. So hielten es auch Thomas Mann und Albert Einstein. Und so frönt unser Glückskind ausgiebig dem süßen Schlafe, überläßt sich seiner Gabe des Schauens und schwelgt in Liebesträumen, die einem Doppelwesen galten, einem flüchtig-innig erblickten Geschwisterpaar ungleichen Geschlechtes und schon bald wahr werden sollten. Sogar der Geist sucht ihn heim, wenn er folgert, daß an den Stoffen nichts, an ihrer geistreichen und glücklichen Verbindung aber alles gelegen ist. Auf die Vergeistigung oder Beseelung der Verinnerlichung oder Veräußerlichung kommt es den Geistesheroen an. Aber das Glück ist eigentlich nur dort zu finden, wo es noch keine oder keine Worte mehr gibt, im Blick und in der Umarmung. Nachdem der Jüngling die heikle Frage seines militärischen Verhältnisses komödiantisch bravourös gelöst hat, gerät er ins Nachdenken darüber, daß soldatisch, aber nicht als Soldat, figürlich, aber nicht wörtlich, daß im Gleichnis leben zu dürfen eigentlich Freiheit bedeute. Im Gleichnis der Freiheit gestaltete er dann auch seine persönliche Liebeserziehung - bis es an der Zeit war, seine Stellung anzutreten. Die Unerquicklichkeit seiner Fahrt dritter Klasse kommentiert unser Lebenskünstler in grundsätzlicher Weise: Das, was man Schicksal nennt, und was im Grunde wir selber sind, fand, nach unbekannten, aber unfehlbaren Gesetzen wirkend, binnen kurzem Mittel und Wege, zu verhindern, daß es jemals wieder geschah. Wenngleich nur als dienstliche Marionette, so wußte unser Lebemann den Aufenthalt im Pariser Luxushotel zu seinem Vorteil und Fortkommen ebenso wie zu seiner größten Freude behaglich und lustvoll zu nutzen.

Wahre Lebenskünstler verpassen keine Gelegenheit und vermögen Menschen jedweden Standes für sich einzunehmen; denn auch sie zählen zu den Erwählten. Und so vermag sich unser Schönling und Charmeur im dritten Buch sogar seinen Knabentraum vom Prinzen zu erfüllen, indem er mit dem Marquis de Venosta die Rolle tauscht und sich auf eine Weltreise begibt, die eigentlich dem Marquis zugedacht war. Vor der großen Überfahrt, im Zug nach Lissabon, nimmt unseren Hermes kein geringerer als der Göttervater Zeus selbst in Empfang. An dem für den Marquis reservierten Platz im Speisewagen saß nämlich bereits ein älterer Herr am Tischchen, der zu unserem Edelmann mit ,,Sternenaugen`` aufblickte als er ihm den Abendgruß bot. Aber lassen wir den Hochstapler auf Reisen selber zu Wort kommen: Ich bin außerstande zu sagen, worauf eigentlich das Sternenartige seines Blickes beruhte. Waren seine Augensterne besonders hell, milde, strahlend? Gewiß, das waren sie wohl,- aber waren es darum schon Sternenaugen? ,,Augenstern`` ist ja ein geläufiges Wort, aber da es nur etwas Physisches sachlich bei Namen nennt, deckt es sich keineswegs mit der Bezeichnung, die sich mir aufdrängte, da doch etwas eigentümlich Moralisches im Spiele sein muß, wenn aus Augensternen, die jeder hat, Sternenaugen werden sollen. Erheischte der Marquis womöglich einen Abglanz von der Größe der im Seienden verkörperten Vernunft? Dem Proteus schienen im milden Glanz der Sternenaugen des Mitreisenden Zeus, Goethe und Einstein gleichermaßen durch. Nach einigen Exkursionen in die Naturkunde stellte sich der Tischnachbar dann vor, indem er den Bogen von der Natur zum Menschen spannte: Sie haben, wie Sie wissen, überall Vettern und Nebenverwandte, Herr Marquis. Meine Beschlagenheit darf Sie nicht überraschen. Geschlechts- und Abstammungskunde ist mein Steckenpferd,- besser gesagt meine Profession. Professor Kuckuck ...

Nach Wysling reicht das Spektrum der Assoziationen zum Namen Kuckuck von einigen Autoren naturkundlicher Bücher über den Hahnrei (engl. cuckoo) bis zum Zeus- und Teufelsvogel. Die Beziehung zu Einstein belegt darüber hinaus ein populärwissenschaftliches Buch, das Thomas Mann gelesen und mit zahlreichen Anstreichungen versehen hatte: L. Barnett, The Universe and Dr. Einstein. With a foreword by Albert Einstein, 1948. Aus kosmischer Perspektive betrachtet, ist das Leben nur eine flüchtige Episode. Gerade das nimmt den Lebenskünstler ein für dasselbe. Die relativierend ironische Distanz des Naturkindes Kuckuck wendet sich gar ins männlich Heitere, wenn er dem Lebemann zu bedenken gibt: Was aber den vollschlanken Frauenarm angeht, so sollte man bei dieser Gliedmaße sich gegenwärtig halten, daß sie nichts anderes ist als der Krallenflügel des Urvogels und die Brustflosse des Fisches. Eine Bemerkung, die besonders Goethe und Einstein in ihrer Scheu vor besitzergreifender Liebe zustimmend erheitert hätte. Einem Götterkind konnten derartige Naturwidrigkeiten natürlich nichts anhaben. Prof. Kuckuck kam unterdessen auf die ,,Urzeugungen`` zu sprechen: Es hat nicht eine, sondern drei Urzeugungen gegeben: das Entspringen des Seins aus dem Nichts, die Erweckung des Lebens aus dem Sein und die Geburt des Menschen. Einem Naturkundler derartige Metaphysik in den Mund zu legen, sei dem Literaten nachgesehen. Mit den folgenden kosmologischen Betrachtungen nimmt Thomas Mann ein Thema wieder auf, dem schon 1903 ein Mitreisender Tonio Krögers unter dem Nachthimmel auf der Ostsee nachhing und den Schriftsteller wieder 1934 auf seiner Meerfahrt mit Don Quijote zum Widerspruch reizte. 1954 nun stimmt der altersweise Geistesaristokrat die Versöhnlichkeit der Allsympathie an, wenn er den Abenteurer erinnern läßt: Sein sei nicht Wohlsein; es sei Lust und Last, und alles raumzeitliche Sein, alle Materie habe teil, sei es auch im tiefsten Schlummer nur, an dieser Lust, dieser Last, an der Empfindung, welche den Menschen, den Träger der wachsten Empfindung, zur Allsympathie lade.- ,,Zur Allsympathie``, wiederholte Kuckuck, indem er sich mit den Händen auf der Tischplatte stützte, um aufzustehen, wobei er mich ansah mit seinen Sternenaugen und mir zunickte. Die für Mann im Seienden empfundene Allsympathie entspricht der für Einstein im Seienden verkörperten Vernunft.

Der Naturkundler und Paläontolog Kuckuck war auch Direktor des Naturhistorischen Museums in Lissabon. Wie auf dem Olymp bewohnte er eine Villa hoch oberhalb der Stadt. Den Proteus Krull versetzte der Gang durchs Museum in die klassische Walpurgisnacht. Die Freundin Zaza des Marquis Loulou Venosta verschmolz dabei mit der Tochter Zouzou des Professors. Und im Doppelbild von Mutter und Tochter überdeckten sich Frau und Tochter Kuckucks. Während die Tochter dem zarten Liebeswerben des Schönlings mit den Hermes-Beinen verfiel, nahm ihn die Mutter nach einem Stierkampf: ,,Hole! Heho! Ahe!`` rief sie mit mächtigem Jubel. Ein Wirbelsturm natürlicher Kräfte trug mich ins Reich der Wonne. Und hoch, stürmischer als beim iberischen Blutspiel, sah ich unter meinen glühenden Zärtlichkeiten den königlichen Busen wogen. Mit diesen Worten enden die Bekenntnisse des Lebenskünstlers und beschwören noch einmal die Große Freude herauf, die er schon am Busen der Amme in Allsympathie zu genießen wußte.

Einstein und Mann vollendeten je auf ihre Weise die Kinderträume und gingen im Einklang mit ihrem persönlichen Reifen und Altern in ihr erhaben altersweises ,,Nirwana`` auf. Die Entwicklung des Physikers erstreckte sich von der Überwindung des Nur-Persönlichen im Seelenkampf des Jünglings über die mathematisch-physikalische Kosmologie bis hin zu dem Gefühl des Aufgehobenseins im Universum in der Altershaltung der kosmischen Religiösität. Der Literat fand frühzeitig die Masken und Formen zur Symbolisierung seiner Künstlerexistenz, um sich über die musikalisch-psychologische Mythologie zur wachsten Empfindung des Menschen im Sein aufzuschwingen und in die Altershaltung metaphysischer Allsympathie überzugehen. Die banalen Alltagsschicksale und die primitiven Gefühle der Volksseele blieben den beiden ebenso fremd wie die Verirrungen der Massenhysterie und die Anwandlungen romantisch verklärter Liebe. Ihr beider Leben ging im Werk auf und der heiteren Gelassenheit des Wissenschaftlers entsprach die ironische Distanz des Künstlers im Umgang mit ihren Mitmenschen. Wie sich ihre Wirkung vom engeren Freundes- und Familienkreis über die Gemeinde der Wissenschaftler und Literaten bis hin zum Weltruhm steigerte, der bis heute nachwirkt, wird Thema des nächsten Kapitels sein. Im Gegensatz zur Literatur Manns, die zumindest oberflächlich allen zivilisierten Menschen zugänglich ist, wird es dabei auch um das Kuriosum der Berühmtheit Einsteins gehen, den man zur Symbolfigur der Wissenschaft stilisierte, obwohl sich kaum jemand die Mühe machte, seine Originalarbeiten zu lesen.


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Ingo Tessmann
2/16/2003