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Philosophische Untersuchungen

Wittgenstein hielt Mengenlehre und mathematische Logik für entbehrliche Teile der Mathematik. Ihm ging es um eine Begründung der Logik bzw. Mathematik durch Reflexion der Umgangssprache. Den Anstoß zur Wiederaufnahme des Philosophierens gab ihm der niederländische Mathematiker Brouwer. 1928 hielt er in Wien einen Vortrag über Mathematik, Wissenschaft und Sprache. Brouwer galt als engagierter Vertreter des Intuitionismus. Dieser philosophischen Außenseiter-Schule ging es darum, die Mathematik aus der Urintuition des Zählens zu entwickeln. D.h. aus der Einfühlung in unser Zählvermögen sollte die Mathematik gefolgert werden können. Das ausgeschlossene Dritte, Negationen und Widerspruchsbeweise wurden in der operatativen Logik nicht zugelassen. Logik und Arihmetik sollten gleichermaßen aus dem Operieren mit Symbolen abgeleitet werden können. Um die Mathematik allein auf der Grundlage konstruktiver Beweise rechtfertigen zu können, wurde die operative Logik von den Konstruktivisten später im Detail ausgearbeitet.

Die intuitionistische Verbindung aus logischer Strenge und Einfühlung in menschliche Grundvermögen kam der Wesensart Wittgensteins sehr entgegen. Denn gegen den etablierten Wissenschaftsbetrieb hegte er erhebliche Vorbehalte: In Wirklichkeit gibt es nichts Konservativeres als die Wissenschaft. Die Wissenschaft verlegt Eisenbahngleise. Und für die Wissenschaftler ist es wichtig, daß sich ihre Arbeit auf diesen Gleisen bewegt. Ein Witz spitzt sehr schön zu, was Wittgenstein meinte. Zwei Geistesgestörte folgen einem eingleisigen Bahndamm. Nachdem sie einige Zeit so vor sich hin gegangen sind, hören sie hinter sich das Pfeifen eines Zuges. Da sagt der eine bekümmert: Wenn nicht gleich eine Weiche kommt, sind wir verloren ...

Two roads diverged in a wood - and I
I took the one less traveled by

Habe den Mut, Deinen eigenen Weg zu gehen. Springe vom Bahndamm und folge dem wilden Leben, das sich austoben möchte. So hat Wittgenstein einmal sein Lebensideal charakterisiert. Während seines philosophischen Schweigens erreichte er eine persönliche Läuterung, vervollkommnete sich durch Übernahme weiterer Bürden, folgte mehr und mehr dem Primat der Praxis:

Geschrieben steht: Im Anfang war das Wort!
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat.
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!

Dieses Zitat entstammt dem Faust Goethes. Wittgenstein ging zunehmend dazu über, in Gleichnissen zu sprechen. Er suchte nicht mehr nach Problemlösungen, vielmehr trachtete er danach, Probleme aufzulösen. Die Klarheit, die er anstrebte, war eine vollkommene. Damit meinte er aber nur, daß die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollten. Er schrieb: Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten. Sie läßt alles, wie es ist; schaffe lediglich Ordnung im Haus der Umgangssprache. Denn die Philosophie schütte weder Fundamente, noch errichte sie Gebäude. Sie halte lediglich Ordnung in den Zimmern. Die Mathematik sei ihr Besen; gehöre also nicht zur Einrichtung! Wer Mathematik wie Logik betreibe, verwechsele Tischlern mit Leimen. Widersprüche könnten überhaupt nicht irreführen, da sie nirgends hinführten ...

Da die Philosophie für Wittgenstein heilende Wirkung hatte, trat in seinen Schriften mehr und mehr der ethisch-therapeutische Ansatz hervor. Zwischen dem Tractatus und den nach Wittgensteins Tod veröffentlichten Philosophischen Untersuchungen besteht ein deutlicher stilistischer Unterschied. Gleichwohl führen die Untersuchungen inhaltlich weiter, was im Tractatus nur angedeutet blieb. Im Gegensatz zu den untergliederten sieben Kapiteln des Tractatus', bestehen die Untersuchungen aus einigen hundert Bemerkungen, die fortlaufend durchnummeriert sind: Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit (255). Was ist dein Ziel in der Philosophie? - Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen (309).

Wie man die logische Form nur verstehen könne, wenn man die Sprache als Ganzes sehe, so ließe sich auch die Ethik nur verstehen, wenn man die Welt als Ganzes sehe. Diese späte Formulierung Wittgensteins hat bereits im Tractatus ihren Keim: Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische (6.45). Die logische Klärung der Gedanken im Tractatus erweitert Wittgenstein zur sprachlichen Klärung der Gedanken in den Untersuchungen:

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Philosophische Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert.
109
Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes mit den Mitteln der Sprache.
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Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.
119
Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und die Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckung erkennen.
123
Ein Philosophisches Problem hat die Form: Ich kenne mich nicht aus.

Zur Bedeutung der Sprache heißt es schon im Tractatus: Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt (5.6). In den Untersuchungen führt Wittgenstein eine Gerbrauchstheorie der Bedeutung ein, die weit über die Abbildtheorie des Tractatus hinausgeht: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache (43). Den Gebrauch der Worte deutet er in Spielen, nach der Art wie die Kinder ihre Muttersprache erlernen. Derartige Spiele nennt er Sprachspiele (7). Das Wort Sprachspiel soll hervorheben, daß das Sprechen einer Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform (23). Denn: Sich eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen (19). Im Tractatus hatte sich der Logiker Wittgenstein noch auf die Analyse assertorischer Sätze beschränkt. Demgegenüber führt er die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele an einigen Beispielen vor Augen: Befehlen, und nach Befehlen handeln - Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen, oder nach Messungen - Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung) - Berichten eines Hergangs - Über den Hergang Vermutungen anstellen - Eine Hypothese aufstellen und prüfen - Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme - Eine Geschichte erfinden; und lesen - Theater spielen - Reigen singen - Rätsel raten - Einen Witz machen; erzählen - Ein angwandtes Rechenexempel lösen - Aus einer Sprache in die andere übersetzen - Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten ...

Wittgenstein beginnt seine Untersuchungen mit folgendem Beispiel: Eine einfache Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten, Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: Würfel, Säule, Platte, Balken. A ruft sie aus; B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. Hinsichtlich des Zwecks handelt es sich um eine vollständige primitive Sprache (2).

Die Bedeutung der Wörter erschöpft sich nicht in dem Gegenstand, für den sie stehen. Vollständige Bedeutung erlangen sie erst durch ihren Gebrauch im Arbeitszusammenhang. Dieser Gebrauch wird eingeübt in Lehr/Lernsituationen, die nicht durch Definitionen oder Regeln erklärt werden können. Denn die direkte Verbindung zwischen Wort und Tat, einer Regel und ihrer Anwendung, läßt sich nicht mit einer anderen Regel erklären; man muß den Zusammenhang sehen. Worauf es beim Sprechen ankommt, ist die Verbindung aus sachlichem Gehalt und zweckdienlichem Gebrauch. Sprechen ist Handeln! Niemand redet einfach so daher, jeder verfolgt eine Absicht. Die Bedeutung der Wörter entspricht ihrer Rolle im Sprachspiel. Dieser Bedeutungsreichtum der Wörter zieht eine erweiterte Auffassung von Wahrheit nach sich, die später sogenannte Konsenstheorie der Wahrheit. Wittgenstein schrieb dazu: Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform (241). Um die Rolle der Wörter im jeweiligen Sprachspiel ausfindig zu machen, muß man mitspielen! Denn die Frage: Was ist eigentlich ein Wort? ist analog der: Was ist eine Schachfigur? (108).

Am Tractatus hatte Wittgenstein zwischen 1912 und 1918 geschrieben. Die Arbeit an den Untersuchungen erstreckte sich von 1929 bis 1945. Nachdem er 1947 seine Professur in Cambridge aufgegeben hatte, zog er sich für eineinhalb Jahre in die Einsamkeit einer irischen Hütte zurück. Er starb am 29. April 1951 in Cambridge.

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rztit@
Fri Sep 2 13:54:56 MESZ 1994