Was war DAS? Sofie schreckte hoch. Sie meinte Stimmen zu hören. Verwundert blickte sie auf und geradewegs in einen alten mauerumrahmten Torbogen. Aus ihm schienen wie von weit her die Stimmen zu kommen. Das war bloß ich. Ich streifte mit meinem Spazierstock die Wand entlang. Ich dachte einen Augenblick, es sei das Gebell des wilden Majotaurus. Haben sie nicht gesagt, das alles sei nur ein Mythos? Natürlich ist es das. Nur keine Angst. Plötzlich erklang Musik und die Stimmen gingen darin unter.

Sofie stand auf, durchschritt den Torbogen und befand sich in einem Gang, beidseitig von hohen Mauern begrenzt. Wie verzaubert folgte sie dem Weg, der häufig rechtwinklig abknickte. In der barock klingenden Musik erreichten sie ein paar Sprachfetzen. ... der schrecklichen Gefahr ... in der fürchterlichen Majorshütte ... wir durchwandern nur das Kleine Harmonische Labyrinth ... Sofie wollte stehen bleiben und lauschen; es gelang ihr aber nicht. Sei hastete weiter. Aber wohin? Ihre Gedanken überschlugen sich. Die Musik wurde leiser, brach abruppt ab und - sie betrat einen Raum, der ihr bekannt vorkam. Natürlich! Sie befand sich in der Majorshütte! Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Die plötzliche Stille wirkte unheimlich. Nur keine Panik. Sie sah sich um. Da war der Spiegel. Langsam ging sie auf ihn zu. In ihm bewegte sich etwas. Sie trat heran und erblickte Hilde, die ihr die Hand entgegenstreckte. Erstaunt ergriff Sofie sie und wurde geschüttelt ...

,,Hallo, aufwachen, was ist mit Dir?``

Sofie sah in das besorgte Gesicht Hildes.

,,Wo bin ich?``

,,Du sitzt auf unserer Hollywoodschaukel. Ich heiße Hilde.``

Fassungslos starrte sie Hilde an. Sofie mußte erstmal richtig wach werden.

,,Ich heiße Sofie und kenne Dich aus einem Philosophiekurs.``

Jetzt verwandelte sich Hildes Ausdruck in ein Fragezeichen.

,,Aber das gib's doch nicht! Den Philosophiekurs hat mein Vater mir zum Geburtstag geschenkt.``

,,Das weiß ich. Alberto und ich sind Geschöpfe Deines Vaters ... Aber wo ist Alberto?``

Sofie und Hilde blickten umher.

,,Da liegt ein Brief``, sagte Sofie, ,,vielleicht ist er ja von Alberto.`` Rasch riß sie ihn auf. Es fielen mehrere Papiere heraus. Sie begann laut zu lesen:

,,Liebe Sofie, ich habe einen Abstecher nach Cambridge in England gemacht und werde mich demnächst wieder melden. Da ihr Ferien habt, schlage ich vor, daß Ihr Euch gründlich mit den Gedanken Bertrand Russells vertraut macht. Sie werden unser Existenzproblem klären helfen. Liebe Grüße auch an Hilde, Alberto.``

Verwundert sah sie Hilde an. ,,Wie lange ich wohl geschlafen habe ...``

,,Ich war fast eine Woche nicht mehr im Garten. Wir machten einen Ausflug in die Berge bei Bergen. Mein Vater mußte gestern wieder in den Libanon. Meine Mutter besucht Verwandte in Kopenhagen. Ich freue mich auf die sturmfreie Bude! Als Auftakt kommst Du mir gerade recht.``

Sie rafften die Papiere zusammen und wollten ins Haus gehen. Da bemerkten sie einen Zwerg mit langem Bart. In der Hand hielt er eine Schere. Er schien verwirrt und murmelte ständig: ,,Ich muß mir den Bart schneiden. Ich muß mir den Bart schneiden ...``

,,Aber warum tust Du's denn nicht?`` fragte Sofie.

,,Das kann ich nicht. Ich bin der Friseur unter den Zwergen und darf nur diejenigen Zwerge rasieren, die sich nicht selber rasieren.``

,,Dann darfst Du Dich nur selber rasieren, wenn Du Dich nicht selber rasierst?``

,,Das klingt paradox, nicht wahr?``

,,Davon hab' ich schon `mal gehört``, entfuhr es Sofie. Sie begann nachzudenken. Alberto sprach von einem Barbier, der als Mensch das gleiche Problem hatte wie der Zwerg. Ja, das war's! Sofie entriß ihm die Schere und schwupp war der Bart ab! Erleichtert lief der Zwerg von dannen.

,,Eine merkwürdige Gestalt war das``, ließ Hilde sich vernehmen.

,,Mir sind noch ganz andere Phantasieprodukte begegnet``, erinnerte sich Sofie an ihre Flucht mit Alberto. ,,Jetzt weiß ich wenigstens, daß ich kein Zwerg bin ...``

Nachdem die beiden ausgiebig gefrühstückt hatten, begannen sie die erste Seite aus Albertos Brief zu lesen:

Definitionen

  1. Ein Punkt ist, was keine Teile hat.
  2. Eine Linie ist eine breitenlose Länge.
  3. Die Enden einer Linie sind Punkte.
  4. Eine gerade Strecke ist eine solche, die zu den Punkten auf ihr gleichmäßig liegt.
  5. Eine Fläche ist, was nur Länge und Breite hat.
  6. Die Enden einer Fläche sind Linien.

Postulate

  1. Man kann von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen.
  2. Man kann eine begrenzte gerade Linie zusammenhängend gerade verlängern.
  3. Man kann mit jedem Mittelpunkt und Abstand den Kreis ziehen.
  4. Alle rechten Winkel sind einander gleich.
  5. Wenn zwei Geraden mit einer dritten auf derselben Seite innere Winkel bilden, deren Summe kleiner als ein flacher Winkel ist, so schneiden sie sich bei hinreichender Verlängerung auf dieser Seite.

Axiome

  1. Was demselben, ist untereinander gleich.
  2. Wenn Gleiches zu Gleichem hinzugefügt wird, sind die Summen (Ganzen) gleich.
  3. Wenn Gleiches von Gleichem abgezogen wird, sind die Reste gleich.
  4. Was sich deckt, ist gleich.
  5. Das Ganze ist größer als der Teil.

,,Definitionen, Postulate und Axiome ... Die haben wohl `was mit Goemetrie zu tun``, meinte Sofie.

,,Definitionen sind Erklärungen neuer Worte durch schon bekannte. Aber was soll dann etwas sein, was keine Teile hat. Damit ist doch nur gesagt, was ein Punkt nicht ist``, wunderte sich Hilde.

,,Die Postulate erlauben das Zeichnen mit Lineal und Zirkel``, erwiderte Sofie.

,,Genau.``

,,Aber was sind Axiome?`` fragte Sofie. Hilde schlug ein Wörterbuch auf und las vor: Axiom, grundlegender Lehrsatz, der ohne Beweis einleuchtet. Zu grch. axium: ,, für recht halten``

,,Das trifft's. Daß das Ganze größer ist als der Teil, ist doch klar. Aber warum wird es dann extra aufgeschrieben?`` wunderte sich Sofie.

,,Laß uns einfach erstmal weiterlesen``, entgegnete Hilde und griff nach dem nächsten Blatt Albertos.

Was Ihr auf dem ersten Blatt gelesen habt, entstammt den berühmten Elementen Euklids Sie wurden von den Tagen seiner Lehrtätigkeit in Alexandria, von ca. -300, bis in unser Jahrhundert hinein als das Lehrbuch der Geometrie benutzt. Die Euklidische Geometrie galt als das Paradebeispiel exakter Wissenschaft. Galilei und Newton nahmen sie zum Vorbild für ihre Naturphilosophie. Sie faszinierte die Jungen Albert Einstein und Bertrand Russell.

Die Elemente Euklids beginnen mit Definitionen geometrischer Grundbegriffe. Ich habe lediglich die ersten sechs ausgewählt. Die Postulate formulieren Konstruktionsvorschriften, damit aus den Definitionen und Axiomen mit Zirkel und Lineal konstruktive Beweise geführt werden können. Die Auszeichnung von Kreis und Gerade durch Zirkel und Lineal entstammt der platonischen Philosophie. In ihr galten sie als ideale Formen.

Als Beispiel eines Beweises wähle ich den berühmten Lehrsatz des Pythagoras. Er besagt, daß das Hypothenusenquadrat in einem rechtwinkligen Dreieck gleich der Summe der Kathetenquadrate ist. Euklid geht von folgender Beweisidee aus. Zunächst fällen wir das Lot von der Hypothenuse in den gegenüberliegenden Eckpunkt. Dann verlängern wir das Lot in das Hypothenusenquadrat. Die so entstehenden Rechtecke sind dem jeweils gegenüberliegenden Kathetenquadraten flächengleich. Malt Euch die Beweisidee am besten auf. Wenn Ihr Lust habt, versucht Euch an der Durchführung des Beweises. Denkt daran, daß Ihr jeden Schritt durch Angabe eines Postulats oder Axioms begründen müßt. Vielleicht fallen Euch noch andere Beweisideen ein?

Im Vermuten von Behauptungen, den mathematischen Sätzen, und Finden von Beweisen besteht die Hauptaufgabe des Mathematikers. Das Rechnen überlassen sie den Computern. Die Suche nach Beweisideen erfordert viel Phantasie und Kreativität. Das macht die Mathematik so schwierig. Verzweifelt also nicht gleich, wenn Euch nichts einfällt!

,,Das Beweisen verschieben wir auf Morgen, oder?`` fragte Sofie und Hilde war einverstanden.

Zurück zu Euklid. Euch wird nicht entgangen sein, daß seine Definitionen recht vage und unvollkommen sind. Unter den Postulaten fällt das fünfte aus dem Rahmen. Es ist das sogenannte Parallelenpostulat (warum?). In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts konnten Bolyai und Lobatschewsky die Unabhängigkeit des Parallelenpostulats von den anderen beweisen. Seit dem ist die Geometrie Euklids nicht mehr die Geometrie schlechthin, sondern eine neben anderen, für die das Parallelenpostulat nicht gilt. Diese Entdeckung nichteuklidischer Geometrien ist die herausragendste mathematische Leistung des 19. Jahrhunderts. Den sogenannten absoluten Geometrien sind die ersten vier Postulate gemeinsam. Das Beispiel einer nichteuklidischen Geometrie ist die sphärische Geometrie einer Kugeloberfläche. In ihr ist die Winkelsumme im Dreieck größer als tex2html_wrap_inline2399 . Was die Physiker von nun an beschäftigte, war die Frage nach der natürlichen Geometrie des Raumes. Die Antwort gab Einstein erst 1916.

Verwundert blickten Hilde und Sofie sich an. ,,Wieso konnten dann auf der Erdkugel die Städte nach Maßgabe der ebenen Geometrie gebaut werden?`` ging es beiden durch den Kopf. ,,Welche Raumform wohl das Universum hat?`` fragte Sofie. ,,Jedenfalls scheint es kein ebener Würfel zu sein``, entgegnete Hilde.

Einstein führte mit der Relativitätstheorie eine nichteuklidische Geometrie ein. Beim Bau der Meßgeräte wurde aber nach wie vor die euklidische Geometrie benutzt. Wie war das zu vereinbaren? Die Kontroverse um die richtige Geometrie ist bis heute nicht abgeschlossen. Sie wird ausgetragen zwischen Formalisten und Konstruktivisten. Die Konstruktivisten orientieren sich an der Praxis des Gerätebaus. Sie begründen die Definitionen, Postulate und Axiome der Geometrie durch Herstellungsverfahren. Ich komme im Abschlußkapitel des Philosophiekurses darauf zurück. Die Formalisten begnügen sich mit der Widerspruchsfreiheit, der aus den Axiomen und Postulaten logisch erschließbaren Aussagen. Im Gegensatz zu Euklid machte Hilbert 1899 in seinen Grundlagen der Geometrie gar nicht erst den Versuch, die Grundbegriffe der Geometrie zu definieren. Er schrieb:

Wir denken uns drei verschiedene Systeme von Dingen: Die Dinge des ersten Systems nennen wir Punkte und bezeichnen sie mit A, B, C. Die Dinge des zweiten Systems nennen wir Geraden und bezeichnen sie mit a, b, c. Die Dinge des dritten Systems nennen wir Ebenen und bezeichnen sie mit tex2html_wrap_inline2401 ... Wir denken die Punkte, Geraden und Ebenen in gewissen gegenseitigen Beziehungen durch Worte wie liegen, zwischen, kongruent, parallel, stetig, ... Es wird nichts darüber gesagt, was die Dinge dieser Systeme sind. Wir haben die Freiheit uns darunter vorzustellen, was wir wollen - wenn es nur mit den Aussagen der dieser Erklärung folgenden Axiome verträglich ist.

Was zählt ist also allein die logische Stimmigkeit der Axiome. Das Projekt der Formalisten besteht seit Hilbert aus dem Versuch einer logischen Begründung der Mathematik und wird Metamathematik genannt. Russell wird das Projekt auf die gesamte Philosophie zu übertragen versuchen. Die Bedeutung der Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien liegt in diesem Übergang zum Formalismus. In ihm werden die Grundbegriffe und Axiome allein durch die aus ihnen logisch ableitbaren Folgesätze gerechtfertigt. Darin liegt ihre ausschließliche Bedeutung. Was wir uns dabei denken oder vorstellen ist belanglos! Die aus Axiomen, Definitionen, Beweisregeln und (bewiesenen) Sätzen bestehenden Formalismen werden auch Kalküle genannt. Mathematik wird durch sie zum Spiel mit Symbolen.

Zum Abschluß solltet Ihr Euch Gedanken darüber machen, was die Konstruktivisten und Formalisten wohl jeweils zur Einnahme ihrer Position motiviert haben mag. Tragen sie womöglich immer noch den alten Streit zwischen Materialismus und Idealismus aus?

Hilde und Sofie lehnten sich seufzend zurück. Was für vertrackte Probleme? Eine Pause kam ihnen gerade recht. Angelockt vom warmen Sommerwetter stürmten sie in den Garten und liefen auf den Steg hinaus.