Die Zweite Heimat

EIFERSUCHT UND STOLZ, Evelyne 1961. Ein Sommertag. Eine junge Frau steht am Grab ihres Vaters. Sie hat einen schönen Mund, blaue, runde Augen und kräftige Brauen; zwischen ihnen eine Trotzfalte. Im Juli 1961 ist mein Vater gestorben. Er war erst 42 Jahre alt. In der Nacht vor seinem Begräbnis hat sich mein Leben vollständig verändert. Ich hatte meinen Vater sehr geliebt. Ich war immer seine Vertraute gewesen, schon als kleines Mädchen. Und dennoch hat er mir nie gesagt, daß ich nicht das Kind der Frau war, die ich immer für meine Mutter gehalten hatte.

Was für eine schöne Altstimme, dachte Sofie. Noch mehr beeindruckte sie aber die Verwandlung, die Evelyne widerfuhr. Plötzlich sah sie ihr Elternhaus mit ganz fremden Augen. Es war, als hätte man mich in ein fremdes Land verschleppt. Während die schwarzgekleideten Menschen in das Haus ihrer Kindheit gingen, nahm sie Abschied.

In einer geräumigen Vorstadt-Villa werden Vorbereitungen für eine Filmvorführung getroffen. Aus dem Off ist Hermanns Stimme zu hören. Der neue Mittelpunkt unseres Lebens war der ,,Fuchsbau``: eine Jahrhundertwende-Villa am Rande des Stadtteils Schwabing. Das Haus gehörte Fräulein Cerphal, einer älteren Verlagserbin, die junge Künstler sammelte wie andere Briefmarken oder Gemälde. Sie wohnte im Obergeschoß mit Herrn Gattinger, einem braungebrannten Herren im Lodenanzug. Die Jungfilmer Rob, Rainer und Stefan halten ihn für einen Herrn mit Nazivergangenheit. Er regelte das Finanzielle für Fräulein Cerphal, Evelynes Tante. Gattinger war ein Fremdkörper unter den Studenten. Ansgar verachtete ihn als Wirtschaftswunder in Person. Zur Germanistik-Studentin Helga gewandt, sagte er: Weißt Du, was das Wirtschaftswunder ist? Das ist die Machtergreifung der Spießer, nur ohne Hitler.

Auch Hermann bringt Gattinger gegen sich auf. Seine Neue Musik richtet sich gegen den selbstgefälligen spießbürgerlichen Mief: Diese Leute brauchen Wohlklang, brauchen Schönheit, Reinheit, nicht wahr? Und das ist Machtausübung - und Angst. Das ist die Angst, in dieser satten Selbstgefälligkeit gestört zu werden. Und unsere Neue Musik, die richtet sich gegen diese alte Gesellschaftsordnung. So weit geht das für uns.

Sofie mußte an Adornos Sympathie für Schönberg denken. Wiederholte sich in den 60ern der kulturelle Aufbruch der 20er? Wie schön, wenn Freunde sich in Filmkunst, Poesie und Musik verstanden, kam sie ins Schwärmen ...

Während Hermann und Clarissa sich aus Stolz und Eifersucht nicht näher kommen, verbringen Ansgar und Evelyne die Nacht miteinander. Am nächsten Tag begeben sich die beiden gemeinsam auf die Spurensuche nach Evelynes Mutter. Und Hermann beschließt, seinen Weg zu Clarissa erst einmal über die Musik zu suchen. Er hat ihr ein Cellostück komponiert.

ANSGARS TOD. Ansgar, 1961/62