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Unzeitgemäßes und Allzumenschliches

Die von Peter Weiss nachvollzogene Ästhetik des Widerstands und die von Bernal gleichsam als Epistemik des Widerstands in der Geschichte verfolgte Entwicklung der Wissenschaften wäre noch durch eine Ethik des Widerstands zu ergänzen. Nach dem Verständnis des Wagnerschen Musikdramas aus dem dionysischen Rausch archaischer Rituale, wandte sich Nietzsche der im Christentum erstarrten Urform der Moral zu. Sein Feldzug gegen die Moral begann 1881 mit der Morgenröte, wie er im Ecce Homo 1888 hervorhebt. Als Vorarbeiten dazu können Unzeitgemäße Betrachtungen und Menschliches, Allzumenschliches gelesen werden. Die 1873 begonnenen Unzeitgemäßen hält Nietzsche durchaus für kriegerisch und der erste Angriff galt der deutschen Bildung. In der Reichseinheit von 1871 sei im Hochgefühl des Patriotismus der Weimarer Humanismus im deutschtümelnden Nationalismus untergegangen. Mit dem Sieg über Frankreich sei gleichsam der deutsche Geist durch das deutsche Reich aufgegeben und mit dem Deutschtum der Weg der Aufklärung durch die Zivilisierung der Kulturen verlassen worden. Diese von Nietzsche zugespitzte Betrachtung war in der Tat unzeitgemäß, genauso unzeitgemäß wie 1914 der Untertan Heinrich Manns, der Steppenwolf Hermann Hesses 1927 sowie Ein weites Feld, der Roman, mit dem Günter Grass 1995 wiederum im Hochgefühl deutschen Einheitstaumels einen Sturm der Entrüstung erntete. Die Einheit sei stets auf Kosten der Freiheit gegangen. Als Freigeist konnte Nietzsche zwanglos an seinen Vorgänger Voltaire anknüpfen. Dem französischen Aufklärer hatte er denn auch zu seinem 100. Todesjahr 1888 im Ecce Homo sein Buch für freie Geister gewidmet. Voltaires Bestimmung des interessegeleiteten Sprachgebrauchs der Menschen konnte Nietzsche nur beipflichten: Die Menschen wenden die Worte nur an, um ihre Gedanken zu verbergen, und der Gedanken bedienen sie sich nur, um ihre Ungerechtigkeiten zu begründen. Das Machtgefühl treibe die Menschen um, kein romantisches Zusammengehörigkeitsgefühl. Ebenso wie Voltaire verehrte Nietzsche den Freigeist Heine: Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Er besaß jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommene nicht zu denken vermag.

Nietzsche erklärt im Ecce Homo auch den Titel seines Buches für freie Geister: Menschliches, Allzumenschliches: Wo ihr ideale Dinge seht, sehe ich - Menschliches, ach nur Allzumenschliches! Ganz im Sinne seines frühen Lebensentwurfs Fatum und Geschichte beendete er seine Bücherwürmerei der Philologie und trieb fortan Physiologie, Medizin und Naturwissenschaft. Im Anschluss an den heiteren Freigeist und Spötter Demokrit, der nur die Atome und das Leere gelten ließ, forderte der Neo-Kyniker nichts geringeres als eine Chemie der Begriffe und Empfindungen. Dieser entschiedene Naturalismus war auch eine Folge der Freundschaft mit Paul Rée, einem Philosophen und Mediziner, den er 1876 kennengelernt hatte. In seinem Buch: Ursprung der moralischen Empfindungen hatte Rée 1877 folgende These formuliert, die Nietzsche begeistert aufgriff: Der moralische Mensch steht der intelligiblen Welt nicht näher als der physische - denn es gibt keine intelligible Welt. Die Moral wird folglich aus den Triebgrundlagen des Menschen verstanden und unter dem Titel: das Unschuldige an den sogenannten bösen Handlungen erklärt er sie durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des Individuums. Als nur allzumenschlich führt Nietzsche auch die Religion auf die Praxis des Kultus zurück, in dem die Natur insgesamt immer wieder als belebt und willensfähig inszeniert wurde. Nach der sozialen Entwicklungsperspektive der Religion greift Nietzsche die Metapher vom Wanderer auf: Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer,- wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht. Dieser offenen Perspektive, ganz im Sinne des jungendlichen Seefahrers im Ideenozean, folgt ein heiterer Ausklang im Nachspiel unter Freunden:

Schön ist's, mit einander schweigen,

Schöner, mit einander lachen,-

Unter seidenem Himmels-Tuche

Hingelehnt zu Moos und Buche

Lieblich laut mit Freunden lachen.

Lachen war Nietzsche freilich nicht immer zumute. Während der Arbeit an den Unzeitgemäßen plagten ihn zunehmend körperliche Leiden, die sich in Nervenschmerzen, Sehstörungen und Mirgräneanfällen äußerten und ihn zwangen, sich ab Herbst 1876 für ein Jahr beurlauben zu lassen. Die manchmal fast bis zur Erblindung führenden Sehstörungen und ein Druckgefühl auf den Augen begleitet von rasenden Kopfschmerzen wurden so stark und häufig, dass er nur noch selten kontinuierlich einige Stunden konzentriert arbeiten konnte und durchgehend an einem Text zu schreiben vermochte. Das führte ihn notgedrungen vom essayistischen zum aphoristischen Stil. Diese aus der Not geborene Tugend ließ ihn bis heute zu einem der weltweit meistgelesenen Philosophen werden.

Das in der Freundschaft mit Wagner erlebte Hochgefühl vereiste, aber nicht nur krankheitsbedingt, sondern auch durch die Einsicht, dass er für das Musikgenie nur der nützliche Idiot gewesen war, der den Ruhm seines Musikdramas mehren konnte. Die immer wiederkehrenden Krankheitsschübe machten schließlich jegliche geordnete Arbeit unmöglich. 1879 gab Nietzsche seine Professur endgültig auf und wurde in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Zum Glück hatte er in Paul Rée einen neuen Freund gefunden und so stellte der weitere Umgang mit dem eher nüchtern-redlichen Rée für Nietzsche gleichsam eine Morgenröte dar, die den Nachthimmel des Leids zu überstrahlen begann. Safranski hebt den Zusammenhang zwischen körperlichem Leiden und geistigem Triumpf hervor, von dem Nietzsche immer wieder berichtet hat; so auch in einem Brief vom Jan. 1880 an seinen behandelnden Arzt: Meine Existenz ist eine fürchterliche Last: ich hätte sie längst von mir abgeworfen, wenn ich nicht die lehrreichsten Proben und Experimente auf geistig sittlichem Gebiete gerade in diesem Zustande des Leidens und der fast absoluten Entsagung machte - die erkenntnisdurstige Freudigkeit bringt mich auf Höhen, wo ich über alle Marter und alle Hoffnungslosigkeit siege. Im Ganzen bin ich glücklicher als je in meinem Leben.


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Ingo Tessmann 2007-04-15