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Eine neue Frauenbewegung?

An die unvollendet gebliebene Frauenbewegung hat Nicolette Krebitz in ihrem Beitrag zu DEUTSCHLAND 09 erinnert, indem sie die Jung-Autorin Helene Hegemann auf eine Zeitreise nach 1969 schickt. Die beginnt damit, dass Helene mit ihrem Vater telephoniert: Wenn du nichts mehr von mir hörst und sie sagen, ich hätte mich umgebracht, dann glaub' ihnen kein Wort. Dieses Zitat macht jedem Politaktivisten klar, in welche Zeit sich Helene zu wem abzuseilen gedenkt. Zum Auftakt ihrer Reise in die Vergangenheit macht sie sich so ihre Gedanken darüber, dass es ganz gut wäre, nicht immer nur privat unterwegs zu sein, mal irgendwas mit Politik zu machen, womöglich die Welt zu retten, wer weiß ... Angekommen im Berliner Zimmer findet die Zeitreisende nicht nur Tisch und Stühle, eine Schreibmaschine und Kaffee und Kuchen vor, sondern auch einen Plattenspieler mit drei Platten. Eine bestimmte Musik muss laufen, eine der Platten ist die Richtige und wie selbstverständlich wählt die Jung-Autorin Schuberts 8. Symphonie aus, Die Unvollendete von 1822. Der Komponist hatte das Werk in vier Sätzen geplant, aber nur zwei fertig gestellt bzw. überliefert. Im Beiblatt zur Deutsche Grammophon - Einspielung von Giuseppe Sinopoli heißt es 1984: der erste Satz ein Allegro moderato, in dem von Anfang an dramatische Spannung und lyrische Ruhe einander die Waage halten; der zweite Satz ein Andante con moto in E-Dur, erfüllt von rastlos-drängender Bewegung, die aber in einer überirdische Heiterkeit ausstrahlenden Coda zur Ruhe kommt. Mit dem langsam anschwellenden ersten Satz in H-Moll hat die junge Frau aus der Zukunft aus allen Richtungen zugleich Durchzug im Berliner Zimmer herzustellen und synchron zum ersten musikalischen Höhepunkt die Augen zu schließen. ... Wieder sehend gewahrt Helene das Hereinkommen zweier Frauen: Ulrike Meinhof und Susan Sontag. Die Jung-Autorin macht die beiden legendären Frauen miteinander bekannt; denn in Wirklichkeit sind sie einander nie begegnet. Während Susan von ihrem indirekten Weg in die Literatur zu sprechen beginnt, der von Freiheit und Kunst ausging, fängt Ulrike sogleich mit dem Schreiben an: Relativität ist anzuwenden in der Kausalität von Dingen, im Miteinander. Wenn es um Befreiung geht, geht es um Behauptung, um ein Sich-Finden. Das ist Helene allerdings viel zu hoch, sie will sich einfach nicht scheiße fühlen und fragt nach der Kindheit ... Aber das Woher stellt Ulrike vorerst zurück. Worum geht es? Als Frau ist es ganz wichtig, dass man sich nicht ständig auf einer psychologischen Ebene auswerten lässt. Es ist bei den Inhalten zu bleiben, inhaltlich zu argumentieren und nicht hormonell. Denn sonst droht, was Susan wie folgt umschreibt: The color is black. The material is leather. The seduction is beauty. The justification is honesty. The aim is ecstasy. The fantasy is death ... Im Faschismus entlädt sich die Anspannung und parallel zur an- und abschwellenden Symphonie schreibt Ulrike weiter und nimmt Stichworte auf, die Susan und Helene ihr zurufen. Musikalischer und sprachlicher Rhythmus gehen über in ausgelassenes Tanzen der drei Frauen. Doch dann tritt Ruhe ein und nachdem sie sich auf einer Matratze entspannt haben und wieder hochkommen, outet sich Helene als aus der Zukunft kommend mit der Vision, dass sich alle Frauen hätten treffen sollen, die etwas zu sagen hatten. Und ihr spezieller Vorschlag sei es nunmehr, dass Ulrike und Susan ihre Identität tauschten und jeweils das Leben der Anderen führen sollten. Dann wäre die Geschichte sicher anders verlaufen; aber den Frauen fallen natürlich typische Hindernisse ein; was etwa aus den Kindern werden solle, die betreut werden müssten und noch zur Schule gingen. ... Männer haben Menschheitsprobleme, Frauen haben Frauenprobleme, kommentiert Helene resigniert. Die politisch-journalistische Tätigkeit Ulrikes ebenso wie die philosophisch-literarische Arbeit Susans bleibt stets gebunden an der banalen Frage, wer sich um die Kinder kümmert. Der Klassenkampf ist in die Ehen gezogen, die verdrängten gesellschaftlichen Verhältnisse in unsere Betten. Dabei soll der Klassenkampf die Triebfeder jeder gesellschaftlichen Veränderung sein. Aber Helene möchte nur ihre Privatangelegenheiten in Ordnung bringen, während für Ulrike das Private stets eminent politisch ist. Wenn du privat deine Ruhe haben willst, musst du das System verändern, stürzen, eine Bombe in das Bewusstsein der Menschen schmeißen. Und Susan fordert Helene auf: Go out, expose yourself, darling. Go out, find somebody to supports you. Everybody's got something to say. Aber die Zeitreisende weiß natürlich, dass der Kapitalismus alles aufsaugt, sich anverwandelt und in bloßen Konsum verwandelt: Alle gehen raus und zeigen, was in ihnen steckt. Und selbst dann, wenn einer mal wirklich was zu sagen hat, wird's einfach nur konsumiert, hier rein, da raus. Es passiert überhaupt nichts. ... Ich brauch' erst einmal ein Dach über dem Kopf, also Geld. Ich will aber mehr vom Leben, nämlich dass die Leute eine Meinung von mir und Gefühle für mich haben. Dafür gilt es Netzwerke aufzubauen, aber die richten sich früher oder später gegen einen selbst, werden zur erdrückenden Geschichte. ... Wenn man sich ersteinmal dazu entschlossen und die Voraussetzungen dafür geschaffen hätte, die Produktivität in den Dienst der Menschheit zu stellen und nicht den Menschen in den Dienst der Produktivität, ... Wäre dann Emanzipation möglich? Typisch weibliche Verhaltensweisen sind Passivität, Neigung zu träumen, Personenbezogenheit, Neigung zum Mit-sich-Geschehen-lassen, ... Mit dem Ausklang des ersten symphonischen Satzes der Unvollendeten verflüchtigen sich die beiden Heldinnen wieder und Helene stellt fest, dass es einfach ist, ständig im Kinderzimmer zu bleiben, wo sich alles nur in ihrem Kopf abspielt ...

Ein in die Jahre gekommener Hippie und Politaktivist erinnert sich noch an den Film Deutschland im Herbst, der im Oktober 1977 spielt und auf den sich DEUTSCHLAND 09 mit seinen Schilderungen zur Lage der Nation natürlich bezieht. Nicolette Krebitz hat sich 2009 auf Ulrike Meinhof im Jahr 1969 bezogen und Heinrich Böll griff im Herbst 1977 die Tragödie Antigone des Sophokles' aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert auf. Wollte er damit vielleicht an das Widerstandsrecht einer Frau gegenüber der selbstherrlichen Staatsmacht erinnern? Bölls Beitrag zu Deutschland im Herbst handelt von dem Film einer Antigone-Aufführung, die im Fernsehen gezeigt werden soll. Eigentlich ein löbliches Anliegen, in der Glotze nicht nur triviale Serien oder banale Sportreportagen zu zeigen, sondern auch einmal einen gehaltvollen Klassiker auszustrahlen. Und obwohl eine Zensur in Deutschland seit 1948 angeblich nicht mehr stattfindet, lassen sich die Zensoren des Fernsehrats den Film erst einmal vorführen, um in ihrer Ratssitzung darüber befinden zu können. Film ab: Auf dem Monitor erscheinen zwei junge Frauen in weißen Gewändern und sprechen die einleitenden Worte: Gewaltiges kündend, künden wir doch nicht Gewalt. Die Griechinnen verneigen sich, treten ab und begegnen sich kurz darauf als Antigone und Ismene vor dem Tor des Palastes wieder: ANTIGONE: Oh du, geschwisterlich vertraut, Ismenes Haupt! / Weißt du ein Leid, von Oidipus ererbt, das Zeus / uns beiden Überlebenden noch nicht verhängt? ... Vom Grab schließt Kreon einen unsrer Brüder aus! / Den einen ehrt er und den andren ächtet er. / Eteokles zwar, wie sie sagen, senkte er / nach heiligem Gesetz und altem Brauch hinab / ins Erdreich: Dort ist er bei Toten hochgeehrt. / Doch Polyneikes' Leichnam, der unselig fiel, / so ließ er, heißt es, laut den Bürgern künden, soll / im Grabe keiner bergen, keiner soll beklagen ihn ... Während Antigone sich der Staatsautorität Kreons zu widersetzen gedenkt, um ihren geächteten Bruder Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, mahnt Ismene zu Mäßigung und Unterwerfung: ISMENE: Vielmehr lass uns bedenken, dass wir Frauen und / zum Kampfe gegen Männer nicht geschaffen sind, / auch dieses, dass wir untertan den Herrschenden, / gehorchen müssen dem Gebot und Schlimmren noch! / Ich werde beten zu den Unterirdischen, / dass sie verzeihn: ich beuge mich ja nur dem Zwang. / Denen, die an der Macht sind, füg' ich mich: es hat / ja keinen Sinn, zu handeln übers Maß hinaus. Zum Monolog Kreons über die ungleiche Behandlung der Brüder erscheint verspätet der zweite Pfaffe in der Runde der vorführenden Künstler und ihrer Zensoren, während es einem der Filmemacher zu bunt wird und er angeödet den Raum verlässt. Am Ende dann wird die unbotmäßige Frau nach ihrer Tat dem Herrscher vorgeführt und der Film im Film ausgeblendet. Anstoß im Rat der Sittenwächter nimmt zunächst der einleitende Distanzierungstext; der sei zu klassisch, es müsse deutlicher herauskommen ... Die Filmemacher haben natürlich mehrere Varianten parat, auch eine äußerst Unterhaltsame: Es ist unvermeidlich, auch unübersehbar, dass in manchen Stücken, auch klassischen, Gewalt dargestellt wird. Wir distanzieren uns aufs Schärfste von jeglicher Form von Gewalt, und wir sagen dies auch im Namen der Regie, der Verwaltung, des gesamten Esembles, der Bühnenarbeiter und Kassierer, und im Namen aller, die direkt oder indirekt an der Inszenierung mitwirkten. Das gefällt den Moralaposteln nun aber überhaupt nicht; denn Ironie sei doch das, was gegenwärtig am wenigsten gebraucht werden könne. Der Abgeordnete in der erlauchten Runde gibt zu bedenken, dass Teiresias, der Seher, ja wohl allgemein als Intellektueller aufgefasst werden müsse und der Jugend das Stück doch nur als Aufruf zur Subversion verständlich sei. Am Ende wird das Stück aus der Programmplanung entfernt und auf Eis gelegt, um vielleicht in ein paar Jahren wieder unter dem Motto: Die Jugend begegnet Klassikern gesendet werden zu können ...

Warum sollten sich junge Leute keine eigene Meinung bilden können über den Widerstreit der beiden antiken Griechinnen im Kontext des ,,deutschen Herbstes``? Antigone folgte ihrem Gerechtigkeitsgefühl unter der Obhut der olympischen Götter. Im Konflikt mit der durch Kreon repräsentierten Staatsmacht nahm sie lieber den Tod in Kauf als sich wie ihre Schwester Ismene den herrschenden Männern unterzuordnen. Wählte Ulrike aus ähnlichen Gründen den Tod? Folgte sie nur ihrem Gerechtigkeitsgefühl und anerkannte die Menschenrechte? In der Zeitschrift konkret Nr. 10 von 1962 wendet sie sich unter dem Titel: Die Würde des Menschen vehement gegen die Einführung der Notstandsgesetze: Demokratie ist die einzige Menschenwürde sichernde Form staatlichen Zusammenlebens - Diktatur ist Barbarei, Unmenschlichkeit, Terror, Rückschritt. Für den ,,Fall eines Notstands`` wäre die Würde des Menschen wieder antastbar. Und als Kommentar zur Warenhausbrandstiftung im April 1968 schreibt die Journalistin in konkret Nr. 14: Gegen Brandstiftung im allgemeinen spricht, daß dabei Menschen gefährdet sein könnten, die nicht gefährdet werden sollen. Und spezieller spricht dagegen, dass auch noch der kapitalistischen Verschwendung entsprochen werden würde: Dem Prinzip, nach dem hierzulande produziert und konsumiert wird, dem Prinzip des Profits und der Akkumulation von Kapital, wird durch einfache Warenvernichtung eher entsprochen, als daß es durchbrochen würde. Und was spricht dafür? Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt nicht in der Vernichtung der Waren, es liegt in der Kriminalität der Tat, im Gesetzesbruch. Im Prozess, in dem die Brandstifter zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden waren, hatten sie als Grund ihrer Tat auf den Krieg als Kehrseite des Kapitalismus verweisen wollen, um gegen die Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber den Morden in Vietnam zu protestieren. Für die ÖkoLinX-Aktivistin Jutta Ditfurth war Ulrike Meinhof 1969 zu einer ,,Grenzgängerin`` geworden. Sie hatte sich aus ihrer Ehe mit dem konkret-Herausgeber Klaus Rainer Röhl befreit und war mit ihren siebenjährigen Zwillingstöchtern nach Westberlin gezogen. Macht Schluss mit dem konkreten Mief / Und schafft ein APO-Kollektiv!!! Wohl kalkulierte Gesetzesbrüche standen nicht nur auf dem Programm der APO, sondern auch am Beginn der zweiten Welle der Frauenbewegung in Deutschland. Gegen die frauenunterdrückenden Ehegesetze und das Abtreibungsverbot hatten die Frauen bereits im Berliner Aktionsrat für die Befreiung der Frau klargestellt, daß die Unvereinbarkeit von Kinderaufzucht und außerhäuslicher Arbeit nicht ihr persönliches Versagen ist, sondern die Sache der Gesellschaft, die diese Unvereinbarkeit gestiftet hat, so die Kolumnistin Meinhof 1968 in konkret Nr. 12. 1969 hielt Ulrike Vorträge unter dem Titel: Die Befreiung der Frau und gab wiederholt Interviews, in denen sie sich ausführlich zur Situation der alleinerziehenden Mutter äußerte: Privatangelegenheiten sind eminent politisch. Kindererziehung ist unheimlich politisch. Die Beziehungen, die Menschen untereinander haben, sind unheimlich politisch, weil sie etwas darüber aussagen, ob Menschen unterdrückt sind oder frei sind, ... Es ist das Problem aller politisch arbeitenden Frauen, mein eigenes inklusive, dieses: dass sie auf der einen Seite gesellschaftlich notwendige Arbeit machen, dass sie 'n Kopf voller richtiger Sachen haben, dass sie eventuell auch wirklich reden und schreiben und agitieren können. Aber auf der anderen Seite mit ihren Kindern genauso hilflos dasitzen wie alle anderen Frauen auch. ... Man kann nicht innerhalb einer Familie die Konkurrenzverhältnisse aufheben, ohne darum kämpfen zu müssen, die Konkurrenzverhältnisse auch außerhalb der Familie aufzuheben, in die jeder reinkommt, der also seine Familie anfängt - zu verlassen.

Wie viel Konsequenz gehörte dazu, fragt sich Jutta in ihrer Biographie Ulrikes, sich selbst zu ,,entbürgerlichen`` und zur Revolutionärin zu erziehen? Eine Lebensform, in der sich Liebe und Politik verbanden, mochte Ulrike sich gewünscht haben und warum lebte sie nicht in einer Gesellschaft, fragt die Biographin weiter, in der es keine permanente Überforderung war, aktiver politischer Mensch, Autorin und alleinerziehende Mutter gleichzeitig zu sein? In dieser Situation des Übergangs lässt Nicolette Ulrike mit Susan und Helene zusammentreffen. Susan hatte 1950 mit 17 Jahren ihren Uni-Dozenten Philip Rieff geheiratet, zwei Jahre später einen Sohn geboren und bis 1969 zahlreiche Essays und zwei Romane veröffentlicht. Ihre Ehe wurde bald geschieden und um das Kind kümmerte sich zumeist das Kindermädchen, das sich bereits um die Mutter gekümmert hatte. Aber dennoch: auf die Frage Helenes wollte auch Susan nicht ihren bereits 17-jährigen Sohn in New York zurücklassen, um mit Ulrike in Hamburg oder Berlin zu tauschen. Ulrike hatte gerade in Verbindung mit ihrer Frauenarbeit den Fernsehfilm Bambule gedreht über die unerträgliche Situation von Heimmädchen. Und Susan beschloss, statt weiterhin an ihrer Karriere als Essayistin und Schriftstellerin zu arbeiten, Filme zu drehen und dafür Drehbücher zu schreiben und Regie zu führen. Wie Schreiber in seiner Biographie Susan Sontags hervorhebt, geriet sie Anfang der 1970er Jahre zunehmend in einen Zwiespalt darüber, dass die New Left in den USA immer intellektuellenfeindlicher wurde und dazu überging, Literatur, Kunst und Film als bourgeois und ideologisch zu diffamieren; wozu Susan allerdings einige Vorarbeit geleistet hatte, indem sie die kulturellen Errungenschaften der westlichen Zivilisation eng verbunden gesehen hatte mit Kolonialismus und Imperialismus. Folgerichtig wurden ihre ersten Filme Produkte einer intellektuellen und ästhetischen Krise. Ganz anders verlief die Krisenbewältigung bei Ulrike; denn am 14. Mai 1970 sollte der Brandstifter Andreas Baader befreit werden. Im Gegensatz zu der intellektuellen Ästhetin Sontag war Meinhof eine entschiedene moralische Rigoristin. Und die USA mochten verblendet im Antikommunismus, in Vietnam auch einen grauenvollen Krieg führen, eine faschistische Vergangenheit hatten sie nicht. Nach ihrer Beteiligung an der Gefangenenbefreiung war Ulrike in den Untergrund gegangen und hatte an Banküberfällen mitgewirkt. Wie Ditfurth in ihrer Biographie Meinhofs hervorhebt, kommentierte Böll das später im ironischen Vergleich mit den Nazis; denn die mussten zur Erreichung ihrer politischen Ziele keine Bankraube unternehmen ... Der Bankier von Schröder und die deutsche Industrie rückten das Geld freiwillig raus. Und wie schon in den 1920er Jahren, so verfolgte die Polizei auch in den 1970er Jahren wieder die Linksradikalen mit einseitiger Härte und übertriebener Entschlossenheit. Politik, Justiz und Polizeiapparat waren noch immer mit Altnazis durchsetzt und so wurde kräftig unterstützt von der Springerpresse das Schreckgespenst eines staatsgefährdenden Terrorismus an die Wand gemalt. Die sich selbst als Fraktion der Roten Armee verstehende RAF verübte natürlich überhaupt keine menschenverachtenden Terroranschläge, denen zahlreiche Unbeteiligte zum Opfer fielen, sondern unternahm gezielt Bombenanschläge auf Kriminalämter, Polizeipräsidien und US-Militärbasen. Darüber hinaus fielen mehrere exponierte Persönlichkeiten aus der Führungselite des Staates und der Wirtschaft den Attentaten der RAF zum Opfer. Für die Rechtspopulisten war das natürlich ein willkommener Anlass zur Aufrüstung des Staates und für die Linksintellektuellen Grund genug für eine verachtende Kritik. Jutta Ditfurth zitiert dazu Max Horkheimer: So dumm kann keiner sein, um nicht zu sehen, dass sie genau das Gegenteil von dem erreichen, was sie eigentlich wollen.

Was die RAF wollte, hatte sie Das Konzept Stadtguerilla genannt. Alex Schubert veröffentlichte es 1971 zusammen mit Beiträgen revolutionärer Untergrundbewegungen in Südamerika. Im Anschluss an Mao ging es ihnen zunächst darum, zwischen sich und dem Feind einen klaren Trennungsstrich zu ziehen. Angestachelt von diesem Freund-Feindschema des Klassenkampfes sollte der Impuls der Berfreiungsbewegungen aus der dritten Welt in die Metropole Bundesrepublik übertragen werden. Dabei war es das Verdienst der Studentenbewegung in der Bundesrepublik und Westberlin - ihrer Straßenkämpfe, Brandstiftungen, Anwendung von Gegengewalt, ihres Pathos, also auch ihrer Übertreibung und Ignoranz, kurz: ihrer Praxis, den Marxismus-Leninismus im Bewußtsein wenigstens der Intelligenz als diejenige politische Theorie rekonstruiert zu haben, ohne die politische, ökonomische und ideologische Tatsachen und ihre Erscheinungsformen nicht auf den Begriff zu bringen sind, ihr innerer und äußerer Zusammenhang nicht zu beschreiben ist. Das Soziologen-Geschwafel der Seminar-Marxisten sollte mit den praktischen Aktionsformen der Studentenbewegung in Verbindung gebracht werden. Etwas auf den Begriff zu bringen ist das Eine, das erfahrungswissenschaftliche Studium studentischer Protestbewegungen das Andere. Die Altväter der kritischen Theorie hatten in ihren Studien zum autoritären Charakter noch versucht, ihre theoretischen Vermutungen anhand empirischer Untersuchungen zu überprüfen. Nunmehr wurde umgekehrt, jegliche gesellschaftliche Erfahrung ohne weitere methodische Kontrolle im Kontext des als wahr vorausgesetzten Marxismus-Leninismus interpretiert. Denn niemand konnte doch ernsthaft behaupten, dass die Lage der Nation seinerzeit in der BRD in irgendeiner Weise etwas mit einer südamerikanischen Bananendiktatur zu tun gehabt hätte. Die unangemessene Brutalität der Polizei und die Rechtsblindheit der Justiz waren offensichtlich; dennoch blieben genügend Möglichkeiten politischen Ungehorsams auf der Straße und beim Marsch durch die Institutionen. Für die RAF dagegen war Stadtguerilla eine Waffe im Klassenkampf: Stadtguerilla ist bewaffneter Kampf, insofern es die Polizei ist, die rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch macht, und die Klassenjustiz, die Kurras freispricht und die Genossen lebendig begräbt, wenn wir sie nicht daran hindern. Stadtguerilla heißt, sich von der Gewalt des Systems nicht demoralisieren zu lassen. Ulrike Meinhof arbeitete das Konzept Stadtguerilla 1972 weiter aus: Dem Volke dienen. Rote Armee Fraktion. Stadtguerilla und Klassenkampf. Aus der Sicht einer selbsternannten Avantgarde des Volkes wurde nunmehr versucht, mit Bezug zur Alltagspolitik Motive für eine revolutionäre Praxis zu gewinnen: Brandt ist nach Teheran gefahren, um beim Schah die Reste von Verstimmung über seinen Empfang im Sommer '67 auszuräumen. ... Ein Kniefall des Kanzlers vor dem Mörder-Schah. Mit der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg am Rande der Anti-Schah-Demonstration und der Empörung über den Freispruch des Täters Kurras, hatte die Radikalisierung der Studentenbewegung bis hin zur Gegengewalt der RAF begonnen. 1979 war es wieder der Iran, der den Anstoß zur Empörung lieferte; diesmal aber nicht aus seiner Verbindung mit dem Westen heraus, sondern aufgrund seines Untergangs in der islamischen Revolution zum Gottesstaat. Und wieder ist es eine Frau, die Journalistin und Feministin Alice Schwarzer, die sich besonders darüber empört. In ihrem Buch Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz schreibt sie dazu: Als ich 1979 in EMMA und in der ZEIT das im Gottesstaat Iran Gesehene und Gehörte veröffentlichte, handelte ich mir damit eine der härtesten und längsten Diffarmierungskampagnen meines Lebens ein (,,Schahfreundin``, ,,Rassistin`` etc.) Fortan weisen die EMMA-Feministinnen immer wieder auf die islamistische Unterwanderung der sogenannten revolutionären Volksbewegungen hin und verschweigen auch nicht die schleichende Unterwanderung Deutschlands. Und so ist es wohl kaum ein Zufall, dass ein wesentlicher Teil der Terroristen vom 11. September in Deutschland auf ihre Märtyrerrolle vorbereitet worden war. Die von den Gotteskriegern medienwirksam zum Einsturz gebrachten Symbole des Mammons haben eine weltweite Renaissance der Religionen nach sich gezogen. Mögen die Feministinnen der 1970er Jahre bereits vom Verschwinden der patriarchalen Religionen geträumt haben, so sind sie ebenso eines Besseren belehrt worden wie die Marxisten, die sich das baldige Absterben des Kapitalismus herbeiphantasiert hatten. Nach dem Zerfall des Sowjetkommunismus sind Gott und Geld zu den alleinigen Weltmächten geworden. Jochen Weiß hat in seiner Motivgeschichte zur Religiösität des Geldes den kapitalistischen Warentausch bis zu seinem Ursprung in den religiösen Opferriten zurückverfolgt.

Ist die Moderne damit schon wieder an ihr Ende gekommen? In der Fantasy allemal; denn hinter dem Schein von Liebe und Abenteuer verbergen die gläubigen und reichen Cullens als Massenidole der gegenwärtigen weiblichen Jugend in idealtypischer Weise das auf Gott, Geld, Medien vertrauende Patriarchat. Welche Formel gilt, welche Kraft vermag es, die Welt im innersten zusammenzuhalten: Gott oder Geld oder Medien bzw. Kirche und Börse und Medien als kommunikativer Verbund, der vergleichsweise elegante Konversionen von einem ins nächste Register ermöglicht?, fragt sich Jochen Hörisch. Und in der eher oberflächlichen Philosophie in twilight, die Housel und Wisnewski zusammengestellt haben, wird das untote Patriarchat und die Möglichkeit von Liebe diskutiert; denn könnte es nicht sein, dass der Kontrollfreak Edward meint, alles besser zu wissen, bloß weil er ein Mann ist? Und zögert er Bella's Vampirisierung womöglich deshalb so lange hinaus, damit er nicht nur möglichst lange als Mann die Frau dominieren, sondern auch noch als Vampir über den Menschen herrschen kann? Wie soll unter solchen Bedingungen eine Liebe gedeihen können? Indem sich die beiden aufeinander abfahrenden Partner in sie hineinreden? Forderte Eva nicht schon im Paradies durch Adams Biss in ihre Liebesfrucht die verlorene Gleichberechtigung wieder zurück? Gerda Lerner hat die über einen Zeitraum von rund 2500 Jahren sich erstreckende Entstehung des Patriarchats bis etwa -600 genauer rekonstruiert. Aus ihren Thesen zur Entstehung des Patriarchats greife ich lediglich zwei heraus: a) Die Aneignung der sexuellen und reproduktiven Kapazität der Frauen durch die Männer geschah vor der Entstehung des Privateigentums und der Klassengesellschaft. ... h) Das Heraufkommen des hebräischen Monotheismus geschieht in der Form eines Angriffs auf die weitverbreiteten Kulte der verschiedenen Fruchtbarkeitsgöttinnen. Heba verlieh ihren Liebhabern die ewige Jugend und das ewige Leben, indem sie Stammbäume schuf, die immer wieder eine neue Jugend hervorbrachten. Unter den Vampiren sind es endlich auch die Männer, die menschliches Leben umwandelnd verdauern können. Die heilige Allianz von Gott und Geld erreicht im mittelalterlichen christlichen und islamischen Gottesstaat mit den Kreuzzügen und Hexenverfolgungen ihren schrecklichen Höhepunkt. Im Folgeband zur Entstehung des feministischen Bewußtseins hat Lerner die Entwicklung vom Mittelalter bis zur Ersten Frauenbewegung nachgezeichnet. In Verbindung mit dem Anbruch der Neuzeit fragt sie sich mit Virginia Woolf, warum es keine herausragenden Frauen gab, die einen schöpferischen Beitrag zur geistigen Erneuerung leisteten. Nach der bestialischen Ermordung der letzten großen Gelehrtin Hypatia durch den christlichen Mob, hatten die Frauen in den folgenden Gottesstaaten keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr. Sie hatten gottesfürchtig und fürsorglich zu sein und wurden arm und ungebildet gehalten. Einige berühmte Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel. Zu den ersten feministischen Schriftstellerinnen zählt Lerner die 1365 in Venedig geborene Adlige Christine de Pizan. Nachdem ihr Vater zum Hofastrologen König Karls V berufen worden war, zog sie mit nach Paris, erhielt dort eine ungewöhnlich gründliche Erziehung und heiratete mit 15 Jahren einen Hofbeamten. Das Familienglück währte allerdings nicht lange; denn schon bald starb verarmt ihr Vater und kurz darauf 1389 auch ihr Mann. Mit 25 Jahren hatte Christine ihre Mutter und ihre drei kleinen Kinder durchzubringen, indem sie sich im Buchhandel betätigte und als Schriftstellerin arbeitete. 1000 Jahre nach dem Untergang der antiken Gelehrtenwelt im mittelalterlichen Religionswahn inszenierte sich die selbstbewusste Christine in ihrem Hauptwerk Das Buch von der Stadt der Frauen als freidenkende Philosophin im Gespräch mit den Damen Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit. Und was bildete den Grundstein für die Stadt der Frauen? Die Bildung; denn sie verschaffte ihnen das Wissen von den eigenen Interessen und den Freiraum, ihnen nachzugehen und sie öffentlich vertreten zu können. Eine weitere Adlige in der Ahnenreihe gelehrter Frauen ist Emilie du Châtelet, die sich bereits in jungen Jahren mit der analytischen Geometrie Descartes beschäftigte und später zu einer kundigen Interpretin der Naturphilosophie Newtons fortbildete. Seit ihrem 19. Lebensjahr verheiratet und Mutter dreier Kinder, trifft du Châtelet 1733 auf Voltaire und beginnt eine Liebschaft mit ihm. Die beiden eloquenten Freidenker harmonierten sexuell und intellektuell gleichermaßen. Sie lebten bereits eine erotische Freundschaft, wie sie später wieder von Virginia Woolf und Simone de Beauvoir aufgegriffen werden sollte. Voltaire's rhetorisch-stilistischen Vorsprung überkompensierte du Châtelet souverän mit ihrer mathematisch-naturphilosophischen Bildung. Eine breite Aufmerksamkeit in der Gelehrtenwelt erlangte Emilie durch ihre Untersuchungen zum Streit um die von Leibniz so genannte lebendige Kraft. Der heute als Bewegungsenergie bezeichnete Ausdruck ist proportional zur Masse und dem Quadrat der Geschwindigkeit des jeweiligen Körpers. Im Anschluss an Descartes galt demgegenüber eine direkte Proportionalität zur Geschwindigkeit; ein Ausdruck, der heute Impuls genannt wird. Du Châtelet entschied den Streit unter Rückgriff auf Versuche über die Eindringtiefe verschieden schwerer und schneller Körper in weiche Unterlagen. Gemessen an dieser Wirkung ging die Geschwindigkeit im Unterschied zur Masse quadratisch in die Energie ein. Damit hatte eine Frau in origineller Weise die aktuelle Diskussion über ein strittiges Problem in der mathematischen Naturphilosophie vorangebracht. Leider war die Gelehrte 1749 mit 43 Jahren von ihrem Geliebten schwanger geworden und verstarb an den Folgen der Geburt.

Ab 370 verfasste Theon von Alexandria zusammen mit seiner Tochter Hypatia einen Kommentar zu den beiden ersten Büchern des Almagest. Wie Scriba und Schreiber in 5000 Jahre Geometrie weiter hervorheben, kommentierte sie anschließend die Arithmetica des Diophantus und die Konica über Kegelschnitte des Apollonius. Damit hatte sich Hypatia eine hinreichende mathematische Bildung angeeignet, um auf der Grundlage überlieferter und eigener Himmelsbeobachtungen das heliozentrische Weltbild zu favorisieren. Wie schon für den im 3. vorchristlichen Jahrhundert lebenden Aristarch von Samos, stand auch für sie nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt der Welt. Aristarchs Einsichten waren vergessen worden und ebenso erging es Hypatia, die erst in der Renaissance wiederentdeckt werden sollte. Während du Châtelet im Anschluss an Leibniz und Newton mit Voltaire an der weiteren Aufklärung der Naturphilosophie arbeitete, begannen andere priviligierte Frauen des 18. Jahrhunderts mit dem Schreiben von Liebes- und Schauerromanen. Der von den Aufklärern nach der französischen Revolution herbeigeführten Zivilgesellschaft wurde schon bald mit einer Romantisierung des Mittelalters begegnet. Nach Safranski ging es in der Romantik um die Wiederentdeckung der wahren Natur unter der Kruste der Zivilisation. Besonders innig geriet das Romantische in der Verbindung von Dichtung und Musik: Und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort, wie es Eichendorff formulierte. Für den Spätromantiker Rilke blieb das Romantische Ausdruck des Gefühls, daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt. Die beste Definition des Romantischen ist aber bis heute die von Novalis geblieben: Indem ich dem Gemeinten einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich. Ein Ende des Romantischen ist nicht abzusehen und den vorläufig letzten größeren romantischen Aufbruch sieht Safranski in der Studentenbewegung von 1968 und ihren Folgen. Gleichwohl verfolgte Ulrike Meinhof keinen romantischen, sondern einen revolutionären Feminismus. Beide Formen hatten Vorläufer im ausgehenden 18. Jahrhundert. Wie in den Discourses of Feminism nachzulesen ist, verortet Gary Kelly den Romantic Feminism Jane Austen's zwischen der aufgeklärten Zivilgesellschaft und der romantischen Liebesideologie. In der nachrevolutionären Zeit des beginnenden 19. Jahrhunderts ``the rise of civil society'' was a central theme of Enlightenment political thought, social theory, and critical historiography. Wie auch andere Bewegungen der Zeit, griff der romantische Feminismus die besondere postrevolutionäre Situation auf, versuchte sie aber für die Interessen der Frauen zu nutzen: First, Romantic feminists subsumed elements of the Revolutionary feminism of the 1790s led to Mary Wollstonecraft and Mary Hays. ... Second, Romantic feminists addressed the post-Revolutionary crisis in social relations, national unity, economy, culture, and empire by specifying a strong, even central, role for woman. ... Third, Romatic feminists retrieved some of the gains made by woman in Sensibility's feminization of culture. Nach Kelly vermied es Austen in ihrer Version der postrevolutionären Zivilgesellschaft mit aller Sorgfalt und Raffinesse, in irgendeiner Weise Assoziationen mit der französischen Revolution oder dem revolutionären Feminismus der 1790er Jahre aufkommen zu lassen: Accordingly, Austen's novels represent a version of civil society residing in the domestic, local, feminized spheres, embodying a proto-Romantic English nationalism, and underwritten by central principles of Anglican theology.

Nun war das Zeitalter der Aufklärung nicht nur eine Epoche der rationalen Philosophie und experimentellen Wissenschaft, der visionären Technik und des lebenspraktischen Handwerks, sondern auch der dogmatischen Theologie und irrationalen Mythologie sowie des finstersten Aberglaubens an Wunder und Magie. Und ebenso wie die Aufklärung hatte auch ihre Gegenbewegung, die Romantik, eine Kehrseite in der schwarzen Romantik. In ihrer Kulturgeschichte der Nacht hat Elisabeth Bronfen an die formlose Finsternis am Anfang aller Dinge erinnert. Aus dieser tiefen Dunkelheit entsteht die Welt und nur im Gegensatz zu ihr nimmt sie in einem alltäglich wiederkehrenden Wechselspiel von Tag und Nacht, Licht und Schatten, Werden und Vergehen Gestalt an. Und so entsteht in Hesiods Theogonie vor allen Göttern zunächst das finstere Chaos, aus dem die breitbrüstige Erde Gaia, der dämmrige Abgrund Tartaros sowie Eros, der schönste der unsterblichen Götter, hervorgehen. Dem anfänglichen Chaos entstammt aber noch eine zweite Entwicklungslinie, die dunkle Nacht Nyx und die lichtlose Dunkelheit Erebos. Aus der Liebe dieses Geschwisterpaares gehen dann die himmlische Luft und der helle Tag hervor: Aither und Hemera. Die Orphiker vereinfachen später diese Theogonie, indem sie neben dem Chaos allein die Nyx gelten lassen und lediglich durch Erebos und Tartaros ergänzen. Als Urmutter und zeugungsmächtiger Nachtvogel geht die Nyx in die Mythen ein, die nicht nur mit dem hellen Tag schwanger geht, sondern auch den strahlenden Eros hervorbringt, der sich als solcher nur gegen den schwarzen Hintergrund abhebt. Der verhängnisvolle Schicksalsvogel Nyx geistert bis heute in Kunst und Fantasy herum - und durchzieht auch die Romane Virgina Woolfs. Am deutlichsten zeichnet sie die Genese einer Welt aus dem formlosen Chaos der Nacht in Die Wellen nach, wo die Horizontlinie dem Mantel der Nyx vergleichbar ist. Und ebenso erfährt Mrs Dalloway die Gefahren eines hellen Junitages wie eine Schlafwandlerin. Woolfs Schreiben richtet sich gegen das Nichts, das sie täglich als bedrohlichen und zugleich faszinierenden Abgrund begreift, über den das Leben nur einen schmalen Pfad schlägt. Das Zwielicht der Abenddämmerung und ihr Übergang in die finstere Nacht bei Neumond verwandelt sich bei Stephenie Meyer in das verheißungsvolle Zwielicht der anbrechenden Morgendämmerung. Und mit der Morgenröte wird der nach den Großmüttern benannte Übermensch Renesmee geboren. Unterläuft Meyer damit am Ende den Gothic Feminism, wie ihn Diane Hoeveler in den Discourses of Feminism über Jane Austen beschrieben hat? Diane empört sich einleidend in Vindicating Northanger Abbey darüber, dass Mina in Dracula wiederholt als Frau gepriesen werde with a man's brain and a woman's heart. Das seien doch typisch männliche Parameter; denn warum sollte eine Frau denken wie ein Mann? Und sie fährt fort: What I would call the ideology of ``gothic feminism'', or the notion that woman earn their superior rights over the corrupt patriarchy through their special status as innocent victims. Gothic feminism is not about being equal to men, it's about being morally superior to men. It's about being a victim. Ebenso wie Catherine ist auch Bella not the typical gothic heroine: Austen's Catherine will find out what is behind the black veil only on her wedding night, and by then the novel will be safely concluded. But gothic feminism, playing at and profiting from the role of innocent victim of the patriarchy, will continue and thrive as a potent female-created ideology. Enter Jane Eyre. War Bella vor ihrer Verwandlung noch in der doppelten Opferrolle des unterlegenen Menschen und schwachen Weibes gefangen, so wird ihre Tochter Renesmee hoffentlich frei und selbstbestimmt an jeder Gabelung aufs Neue den Pfad ihres Lebens wählen können, ohne wieder von einem allzu sehr auf sie geprägten Mann abhängig zu werden. Aber darüber wird sich jede Leserin ihre eigenen Gedanken machen können. In Defense of the Gothic verteidigt Maria Jerinic das Lesen von Schauergeschichten und liest Northanger Abbey nicht nur als Parodie, sondern auch als Imitation der Mysteries of Udolpho. Ähnlich wie Diane regt sich Maria dabei ebenso über typisch männliche Vorurteile auf. Stein des Anstoßes ist ihr das Buch What Jane Austen Ate and Charles Dickens Knew. Ja, why does Dickens get to ``know'' and Austen only get to ``eat''? Das naive Lesen sei es, das Austen in Northanger Abbey aufs Korn nehme, sie wollte ihre Leserinnen für eine reflektierte Lektüre sensibilisieren: Rather than existing as a parody of Udolpho, Northanger Abbey instead critiques the eighteenth-century positioning of the female reader. Ob von der Autorin intendiert oder nicht, die twilight saga kann zwar nicht als Imitation, wohl aber als Anverwandlung der Romane Jane Austens gelesen werden.

Aus dem 18.Jahrhundert ging neben der wissenschaftlichen Aufklärung auch die romantische Liebe hervor und die bürgerliche Revolution hatte schon bald den reaktionären Nationalstaat zur Folge. Auf die Revolte folgt stets eine Restauration. Und ebenso stehen den Spielarten des aufgeklärten und revolutionären Feminismus die Varianten des gothic und romantic feminism gegenüber. Lerner hat in ihrer Entstehung des feministischen Bewußtseins bis zur ersten Frauenbewegung zur Zeit Virginia Woolfs die Bedeutung der romantischen Zirkel in Europa hervorgehoben. Ihnen entstammten viele der auf Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung zielenden Schriftstellerinnen, die wie Caroline Schlegel oder Bettine von Brentano als Künstlerinnen der gelehrten Konversation kultivierte Salons unterhielten, in denen sie die Dichter, Denker und Musiker ihrer Zeit versammelten. Die Schwestern Vanessa und Virginia Stephen knüpften mit ihrem Bloomsbury-Kreis an diese Tradition an, die in England wesentlich von Lord Byron geprägt worden war. Seiner schwarzen Romantik erwuchs nicht nur der erste Vampir- und erste SciFi-Roman; seine aus der Ehe mit Anne Isabella (Annabella) Milbanke 1815 hervorgegangene Tochter Augusta Ada sollte 1843 auch das erste Computer-Programm formulieren und damit als erste Programmiererin in die Geschichte der Informatik eingehen. Betty Alexandra Toole hat die Briefe der späteren Lady Lovelace mit einer biographischen Einleitung versehen und würdigt sie unter dem Titel: ADA, THE ENCHANTRESS OF NUMBERS, PROPHET OF THE COMPUTER AGE. Lord Byron war als berühmter Dichter und Lebemann der Schwarm vieler Ladys seiner Zeit. Zwischen 1812 und 1814 buhlten Caroline Lamb und Annabella Milbanke um seine Gunst. Caroline hielt der Romantiker allerdings für zu hitzig und unbeherrscht and characterized her as having ``lava running through her veins.'' Ausgerechnet die eher zurückhaltende Annabella war ihm lieber, this ``amiable Mathematician.'' Für einen Romantiker ist die Ehe bekanntlich der Tod der Liebe und so trennte sich das Paar bereits 1816 wieder und der Dichter verließ seine ``Mathematical Medea'' in Richtung Festland. Den Sommer des gleichen Jahres verbrachte er dann in der berühmt gewordenen Zusammenkunft mit Percy und Mary Shelley, ihrer Stiefschwester Claire Claimount und John Polidori am Genfer See. Die romantisch-schaurigen Nächte in der Villa Deodati schufen natürlich genau die richtige Atmosphäre für eine Affäre zwischen dem ruchlosen Dichter und seiner hingebungsvollen Bewunderin - und so brachte Claire im Jahr darauf ihre Tochter Allegra zur Welt. Während sich Lord Byron in Italien seiner nächsten Liebschaft zuwandte, ließ Lady Byron ihrer Tochter Ada eine rigorose mathematische Bildung angedeihen. In dem zarten und kränkelnden, aber überaus empfindsamen und intelligenten Mädchen, hatten sich in besonderer Weise Dichtung und Mathematik, Phantasie und Kalkül vereinigt. Nach dem häuslichen Musizieren und Studieren ermunterte die Mutter ihre gleichermaßen musikalisch wie mathematisch begabte Tochter, sich an die Männer des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu halten,- und so lernte sie bereits 1833 mit 17 Jahren den 42-jährigen Erfinder Charles Babbage kennen: Ada was captivated by him and his first calculating engine, the Difference Engine. In 1834 Babbage started to visualize and than make plans for another calculating engine, the Analytical Engine, which is now heralded as the first computer. Ada was witness to those speculations and was impressed by the universalitiy of Babbage's ideas.

Heute kann sich eine junge Frau, wie Silvia Arroyo Camejo, die bereits mit 17 Jahren ein Lehrbuch zur Quntentheorie geschrieben hatte, wie selbstverständlich an dem wahrlich ersten Quantensprung in der Computertechnik zum Quantencomputer beteiligen; damals war einer Frau noch nicht einmal die Arbeit in einer Bibliothek erlaubt. Und so hatte Ada erst einmal daran zu denken, den aristokratischen Verhältnissen ihrer Zeit zu genügen: 1835 heiratete sie den späteren Earl of Lovelace, bekam drei Kinder und wurde Countess of Lovelace. Da sie die Kindererziehung den Bediensteten überlassen konnte, setzte sie nach einer Unterbrechung von vier Jahren per Briefverkehr ihre mathematischen Studien fort, während Babbage weiter an seiner Rechenmaschine arbeitete. Im Oktober 1842 hatte er die technischen Details seiner Analytical Engine auf einer Ingenieurstagung in Turin vorgestellt und der italienische Ingenieur Menabrae hatte einen technischen Übersichtsartikel darüber geschrieben. Ada fiel nun die Aufgabe zu, diesen Artikel ins Englische zu übersetzen. Ihre mathematischen Kommentare zu dieser Übersetzung fielen dabei umfangreicher aus als der eigentliche Text: Her description of the Analytical Engine can also be used to describe the modern computer. Sie put the Analytical Engine in the appropriate context, defining its limits and its potential. By understanding the significance of the Analytical Engine in the development of science and technology, she expressed a vision for it that still has meaning today. Ada verstand mathematische Gleichungen nicht nur als logische Abstraktion bzgl. der Äquivalenzrelation der Gleichheit, sondern auch als praktische Rechenvorschrift dafür, dass die eine Seite der Gleichung ihre andere Seite zu erfüllen hat. Dafür zerlegte sie die Gleichungen in eine Folge von Anweisungen, die Schritt für Schritt auf einer Rechenmaschine abgearbeitet werden konnten. Aus der Zerlegung einer Formel in einen Algorithmus war die Vision einer programmierbaren Rechenmaschine entstanden, die Ada aus der Verbindung von programmgesteuertem Webstuhl und schrittweise arbeitender Rechenmaschine erlangte. Über das bloße Rechnen mit Zahlen hinaus, umfasste Ada's Vision die Möglichkeit zur allgemeinen Manipulation beliebiger Symbole. Nach der mathematischen Formalisierung und der algorithmischen Kalkülisierung harrte allerdings nach wie vor die technische Umsetzung von der Mechanisierung bis hin zur Automatisierung der Realisierung. Aus der wohl immer wieder deprimierenden Erfahrung mit seinen theologischen und philosophischen Zeitgenossen, hatte schon Leibniz wiederholt den Gedanken ausgesprochen, strittige Ansichten nicht dogmatisch, sondern rechnerisch zu klären. Peter Jaenecke zitiert den Universalgelehrten in seinen Überlegungen zum Calculemus-Gedanken mit den Worten: Wenn es möglich wäre, Symbole oder Zeichen zu finden, die sich dazu eigneten, alle unsere Gedanken ebenso gradlinig und stringent auszudrücken wie die Arithmetik die Zahlen und die Geometrie die Figuren darstellt, dann könnten alle Gegenstände, soweit sie dem Schlußfolgern unterworfen sind, in der gleichen Weise behandelt werden wie es in der Arithmetik und Geometrie getan wird. Trotz dieser weitreichenden Perspektive von Denkmaschinen und virtuellen Welten, blieb sich Ada der grundsätzlichen Beschränkungen der Berechenbarkeit bewusst. Alan Turing bezieht sich in seiner Beantwortung der Frage: Kann eine Maschine denken? auf einen Einwand der Lady Lovelace: Die Analytische Maschine erhebt keinen Anspruch, irgendetwas zu erzeugen. Sie kann all das tun, wofür wir die entsprechenden Durchführungsbefehle geben können. Ähnlich wie schon Hypatia und Emilie hatte sich auch Ada produktiv an der aktuellen Diskussion in der Wissenschaft ihrer Zeit beteiligt, und ebenso wie ihren Vorgängerinnen war ihr kein langes Leben beschieden. Aufgrund ihrer zunehmend angegriffenen Gesundheit konnte sie sich keinen weiteren mathematischen Studien widmen und wandte sich wieder ihrer Freude an der Musik zu. Mit noch nicht einmal 37 Jahren starb Ada 1852 an Gebärmutterkrebs. Tilda Swinton hatte schon bravourös das Leben Orlandos verkörpert, in einem Film aus dokumentarischen Spielszenen stellte sie ebenso gelungen den Erfahrungs- und Bildungsweg Adas da.

Die nächste Nachfahrin Hypatias, die nicht nur als Privatgelehrte ihren Studien nachging, es vielmehr bis zur Professorin der Mathematik in Stockholm brachte, war die 1850 als Tochter eines Generals in Moskau geborene Sonja Kowalewski. In ihren Jugenderinnerungen beschreibt sie die Umstände, wie ihr Interesse für Mathematik geweckt wurde und sie ihr mathematisches Talent entdeckte. Da war zunächst ihr Onkel, der sich häufig mit mathematischen Problemen beschäftigte und im Umgang mit ihr völlig vergaß, dass er sich mit seinen komplizierten Theorien an ein Kind wandte: Und gerade das gefiel mir, und ich fühlte mich als Erwachsene behandelt, spannte alle meine Kräfte an, ihn zu verstehen ... Als Sonja mit 12 Jahren aufs Land zog und ihre Eltern das Haus dafür herrichten ließen, wurde aus irgend einem Grund vergessen, die provisorisch verklebten Wände des Kinderzimmers übertapezieren zu lassen: Glücklicherweise hatte man zu diesem provisorischem Ankleben gerade die lithographierten Vorlesungen Ostrogradskis über Differential- und Integralrechnungen verwendet, die mein Vater in seiner Jugend gekauft hatte. Diese Bogen mit den bunten, unverständlichen Formeln nahmen bald meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Ich stand, wie ich mich erinnere, als Kind stundenlang vor dieser geheimnisvollen Wand und bemühte mich, zum mindesten einzelne Sätze zu entziffern und die Ordnung herauszufinden, in der die Bogen aufeinander folgen mußten. Als Sonja dann mit 15 Jahren in Petersburg das Studium der Analysis begann, hatte ihr Professor den Eindruck, als habe seine Schülerin im voraus schon alles über sie gewusst. Wie bei den Byrons verbanden sich in der Generalsfamilie Kowalewski literarisches und mathematisches Talent. So hatte Sonjas ältere Schwester Anjuta früh mit dem Schreiben begonnen und ihre ersten literarischen Versuche an F.M. Dostojewski geschickt. Und der berühmte Fedor Michailowitsch hatte ihre Erzählung im allgemeinen sogar als sehr beindruckend beurteilt! Ich werde Ihre Erzählung mit großem Vergnügen in der nächsten Nummer meiner Zeitschrift veröffentlichen. ... Schreiben und arbeiten Sie, das übrige wird die Zeit erweisen. Die strahlendste Erinnerung an ihre Kindheit blieb für Sonja die darauf folgende Reise mit der Mutter und ihrer Schwester nach Petersburg - zu Dostojewski. Die Schilderungen der ersten Liebe und Schwärmerei der 13-jährigen Sonja für Fedor, der gerade Anjuta seine Liebe gestanden hatte, sollte sich keine Leserin entgehen lassen. Auch Sonja hatte schreibtalent. Ihrer Faszination für die Mathematik folgend und bestärkt durch ihre frühen Erfolge im Studium, entschloss sie sich mit 18 Jahren für ein fortgeschrittenes Studium in Deutschland. Kein Problem für eine privilegierte junge Dame, sollte man meinen. Es war einer unverheirateten Russin seinerzeit allerdings nicht erlaubt, das Land zu verlassen! Was tun? Eine Scheinehe eingehen mit einem Studienkollegen. Das erste Hindernis war schnell überwunden, wenngleich es sich als problematisch erwies, dass sich ihr Scheinehemann wirklich in sie verliebt hatte. Da ein Mathematik-Studium für Frauen damals in Deutschland nicht erlaubt war, begann Sonja ihren Privatunterricht zunächst in Heidelberg und setzte ihn auf eine Empfehlung hin in Berlin bei Professor Weierstraß fort. Wie Meschkowski anmerkt, war der 35 Jahre ältere Junggeselle und eigentliche Gegner des Frauenstudiums von der Begabung seiner jungen Studentin derart begeistert, dass er es ihr ermöglichte, in Göttingen mit einer Arbeit über partielle Differentialgleichungen zu promovieren. Auch Sonja war kein langes Leben beschieden. Sie wurde mit 41 Jahren nicht viel älter als Ada. In dem Film Ein Berg auf der Rückseite des Mondes werden ihre letzten Jahre in Stockholm als wissenschaftlich produktiv, in Liebesangelegenheiten aber eher ernüchternd, dargestellt.

Schreiben und arbeiten Sie, das übrige wird die Zeit erweisen. Dieser Rat Dostojewskis hatte nicht nur die Schwestern Kowalewski in der Ausbildung ihrer Talente beflügelt, er hätte auch als Motto für das Leben der 1906 in Hannover geborenen Hannah Arendt stehen können. In dem Buch Ich will verstehen gibt sie Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Ihr Verstehensdrang hatte die junge Frau nach Selbststudium, Privatunterricht und der Teilnahme an Universitätsveranstalungen 1924 als Externe das Abitur bestehen lassen. Nach dem Studium der Philosophie, protestantischen Theologie und griechischen Philologie in Marburg, Heidelberg und Freiburg promovierte die Jung-Philosophin mit erst 22 Jahren bei Karl Jaspers über Der Liebesbegriff bei Augustin. Als Jüdin hatte sie es fortan nicht leicht in Deutschland. Zunächst unternahm sie Forschungsprojekte zur deutsch-jüdischen Assimilation und betätigte sich als freie philosophische Schriftstellerin. 1933 wurde sie verhaftet, zum Glück aber schnell wieder freigelassen und so emigrierte sie nach einem Aufenthalt in Paris und dem Überstehen einer Internierungszeit in Südfrankreich 1941 nach Amerika. Hier war ihr endlich ein Leben in Freiheit möglich, wie sie es sich für Deutschland nur erträumt hatte. Mit dem Schwerpunkt auf Untersuchungen zu den Ursprüngen des Totalitarismus und den Grundlagen des tätigen Lebens wollte sie zeitlebens verstehen und verfolgte zahlreiche Forschungsvorhaben und Lehraufträge bis sie 1967 an der New York School for Social Research zum university professor für politische Theorie ernannt wurde. In einem 1964 mit Günter Gaus geführten Fernsehgespäch äußerte sie sich grundsätzlich zu ihrem Verstehensdrang: Wesentlich ist für mich: Ich muß verstehen. Zu diesem Verstehen gehört bei mir auch das Schreiben. Das Schreiben ist, nicht wahr, Teil in dem Verstehensprozeß. ... Worauf es mir ankommt, ist der Denkprozeß selber. Wenn ich das habe, bin ich persönlich ganz zufrieden. Wenn es mir dann gelingt, es im Schreiben adäquat auszudrücken, bin ich auch wieder zufrieden. Hannah begann bereits mit 14, Kant, Jaspers und Kirkegaard zu lesen und wenn sie nicht hätte Philosophie studieren können, wäre sie womöglich ins Wasser gegangen. In ihrem frühen Text Die Schatten, den sie Anfang 1925 während ihrer Liebschaft mit Martin Heidegger verfasste, geht es ihr bereits um das Verhältnis zu sich selbst und zu der sie umgebenden Welt. Im Verstehen werden Lebenswelt und Wirklichkeit als ein Gegenüber und Gegenstand erfahren und gedacht. In den Worten Jaspers: Es kommt darauf an, ganz gegenwärtig zu sein. Ihre früh erwachte intellektuelle Begabung war Arendt seinerzeit nicht wirklich bewusst geworden, nur gelegentlich als eine Art von Fremdheit unter den Menschen erschienen. Seit 1941 lebte Hannah Arendt mit ihrem zweiten Ehemann in New York und - genoss die Freiheit, aber vermisste die deutsche Sprache. In den 1960ern nahm sie regen Anteil an der Jugendbewegung und schrieb - wie in der nächsten Generation auch Susan Sontag - für die linksintellektuelle Zeitschrift Partisan Review. Ob sich die beiden Frauen persönlich begegnet sind, ist nicht bekannt, wie aber Schreiber hervorhebt, pries Arendt Sontag im Herbst 1963 anlässlich des Romans Der Wohltäter als große Schriftstellerin und bewunderte insbesondere, wie sie eine wirkliche Geschichte aus Träumen und Gedanken stricken konnte. Die Emanzipationsfrage war für Arendt bemerkenswerterweise nie ein Problem gewesen: Ich habe einfach gemacht, was ich gerne machen wollte. Außergewöhnliche Frauen hatten im Verlauf der Menschheitsgeschichte immer einmal wieder die Gelegenheit, ihren Vorlieben nachzugehen und ihre Talente auszubilden,- sofern sie nur hinreichend gefördert wurden oder finanziell unabhängig waren. Erst mit der zweiten Welle der Frauenbewegung änderte sich das. Wie schon immer den durchschnittlichen Männern, sollte es fortan ebenso den gewöhnlichen Frauen ermöglicht werden, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und Karriere zu machen.

Für Jutta Allmendinger, die kürzlich in der BRIGITTE-Studie untersuchte, wie junge Frauen heute leben wollen, befinden sich die Frauen auf dem Sprung. Junge Frauen sind heute in Deutschland besser ausgebildet als die gleichaltrigen Männer, wollen Karriere machen und finanziell unabhängig sein. Wie Hannah Arendt können sie einfach machen, was sie gerne wollen. Gefragt, welche Rolle sie in einem Handballteam am liebsten übernähmen, entscheiden sich 60% für eine Angreiferin und nur 8% halten sich für eine Abseitsstehende. Jutta sieht darin ein klares Zeichen ihres Aktivitätswillens. Das ist es auch, aber drückt sich in dem schlichten Aktivitätswillen nicht ebenso eine Neigung zum aktiven Mitspielen aus? Ist es womöglich bloß der aktivierte Herdentrieb? Dominiert heute wieder das Mitläufertum die jungen Frauen nach der Zeit des jugendlichen Aufbegehrens? Auf die Frage, ob sie sich innerhalb eines Fischschwarms als besonderer bzw. gegen den Strom schwimmender Fisch ansähen, bejahen das lediglich 13% der jungen Frauen, 23% halten sich für Anführerinnen und 52% schwimmen lieber im Mittelfeld mit dem Strom. Ein bemerkenswertes Ergebnis! Blinder Aktivismus scheint unter den jungen Frauen vorzuherrschen. Es wird gern mitgespielt und selten gegen den Strom geschwommen, geschweige denn das Spiel in Frage gestellt. Der Medienkapitalismus hat offenbar auf der ganzen Linie gesiegt. Alternative Lebensformen scheinen mega-out zu sein. Bestimmten in den 1950er Jahren Kirche, Küche und Kinder das Leben der Frauen, so sind daraus zwei Generationen später Karriere, Kohle und Kinder geworden. Wohin sind die Visionen und Utopien von der Selbstverwirklichung in einer besseren Welt entschwunden? Mit den heute technisch mehrheitlich möglichen Telearbeitsformen ließe sich zwanglos an die Kinderladenbewegung anknüpften oder zumindest eine paarweise Erziehung der Kleinen bewerkstelligen. Fast 90% der jungen Männer, aber nur rund 25% der jungen Frauen wünschen sich keine Arbeitszeitverkürzung für die Versorgung kleiner Kinder. Die schwierige Vereinbarung von Berufsarbeit und Kinderbetreuung ist nach wie vor das entscheidende Hindernis für den Sprung der Frauen. Hätte Helene immer noch die gleichen Probleme, über die sich schon Generationen intellektueller Frauen beklagt hatten und mit denen sie gerade wieder auf ihrer Zeitreise in das Berliner Zimmer zu Susan und Ulrike konfrontiert wurde? Virginia Woolf, Simone de Beauvoir und Hannah Arendt wollten keine Kinder, ganz im Einklang mit den 40% der gebildeten Frauen im gegenwärtigen Deutschland. 40 Jahre nach der zweiten Welle der Frauenbewegung gibt es in Westdeutschland immer noch das Problem fehlender Kinderkrippenplätze, die lediglich für gerade mal 8% der Kinder verfügbar sind. Nach dem Ausbauplan der Bundesregierung von 2008 sollen es bis 2013 immerhin 35% werden. Die Frauenbewegung ist in der Tat unvollendet geblieben und es ist abzusehen, dass aufgrund der horrenden Billionen-Verschuldung Deutschlands, die paar Milliarden für den Ausbau der Kinderkrippen nicht mehr aufzutreiben sein werden.

Man kann sich natürlich auch selber helfen. Helene Hegemann lebt gegenwärtig in einer WG, in der sie als Mutter ihr Kind nicht alleinerziehen müsste. Als talentierte Filmemacherin, Dramaturgin und Schriftstellerin wird sie ihr finanzielles Auskommen haben. Ihr lesenswertes Erstlingswerk AXOLOTL ROADKILL ist bereits mehr als hundertausendfach verkauft worden. Eine beachtliche Auflage für einen eher experimentellen Roman. Da mag ihr Jugendbonus mitgespielt haben, wenngleich die alten Männer des Literaturestablishments sogleich über die junge Frau herfielen, als ruchbar wurde, dass die Anfängerin womöglich abgeschrieben habe. Damit befände sich Helene allerdings in guter Gesellschaft, wenn man an so geachtete Autoren denkt wie: Thomas Mann, Bert Brecht oder Alfred Döblin. Hegemann hat ihren plattfahrgefährdeten Lurch im ewigen Larvenstadium in vielfach kollaghenhaft versetzten Szenen ausnehmend humorvoll, selbstreflexiv, gedankenreich, assoziativ und anspielungsverzweigt gestaltet. Zugleich ist ihr überaus unterhaltsamer Roman aber auch oberflächlich, sprunghaft, provokativ und auf Effekt aus. Aber welche Jungautorin traut sich so etwas heutzutage überhaupt noch zu? Helene gehört jedenfalls zu den rund 10% junger Frauen, die nicht nur blöde mitspielen und einfach mit dem Strom schwimmen wollen, sondern kreativ und unerschrocken ihre selbstgestalteten Projekte verfolgen. Ist sie damit eine Nach-EMMA-Feministin, die Jana Hensel und Elisabeth Raether in ihren autobiographisch gefärbten Reportagen als NEUE DEUTSCHE MÄDCHEN umschrieben haben? In der Begrüßung zum Buch berichtet Jana über eine Pressekonferenz mit Alice Schwarzer, auf der sie angemerkt hatte, dass von einer Chancengleichheit im beruflichen Fortkommen, in der Karriere also, noch nicht die Rede sein könne. Müsste das nicht das eigentliche Thema für Emma heute sein? Statt Islamismus und Prostitution und Pornographie und Magersucht und so ... Die Antwort der Frauenbewegungs-Veteranin gibt ihr zu denken: ,,Wir sind doch heute in einer wunderbaren Situation, über die Karriere von Frauen überhaupt reden zu können¡` Während Jana aus dem Berufsleben ausschert und zur Spielverderberin wird, ist es Elisabeth leid, sich anzupassen und Sex wie ein Mann zu haben: Ich möchte keine Frau sein, die wie ein Mann sein möchte; denn das Versprechen absoluter Freiheit und die Vollendung der Emanzipation bildete für Frauen die Faszination, welche von der Vorstellung ausging, endlich ,,ihre Gefühle`` ablegen zu können. Die Ernüchterung, die für Elisabeth die Liebschaften mit Männern nach sich zogen, erfuhr Jana im Beruftsleben während ihrer Praktikumszeit als Journalistin in einem Verlag. In der Redaktion hatte sie das Frausein entdeckt und es war ein Schock für sie. Im Rückblick scheint ihr der Mangel an Frauen in Führungspositionen nur noch ein Symptom einer gegenwärtigen Krise des Professionellen zu sein. Übermächtige Hierarchien, fehlende Führungskultur, Konkurrenzdruck, intransparente Enscheidungsvorgänge, mangelhafte Kommunikation, Mobbing, Günstlingswirtschaft gehören ebenfalls dazu. Dem Professionellen fehlt das Korrektiv. Es bildet kein Bewusstsein von sich. Ist mit der Verweigerung qualifizierter Frauen, im patriarchalen Medienkapitalismus um Führungspositionen zu buhlen, auch der Wahlfreiheits-Feminismus schon wieder gescheitert? Susan Pinker hat in ihrer Studie über begabte Mädchen, schwierige Jungs den wahren Unterschied zwischen Männern und Frauen herausgearbeitet. Als Sozialforscherin kommt sie zu dem Schluss, dass es bei menschlichen Entscheidungen eine Handvoll unterschiedlicher Katalysatoren gibt, von denen viele neurologische oder hormonelle Ursachen haben, während andere bestimmte Arbeitsbedingungen widerspiegeln, die auf den männlichen Standard zugeschnitten sind. Eine Frau ist eben kein Mann und sollte auch nicht so sein wollen wie ein Mann. Erst wenn das Berufs- und Privatleben vom männlichen Standard befreit sein wird, werden sich die Frauen paritätisch an den Führungspositionen beteiligen wollen und die Ehen bzw. Lebensgemeinschaften seltener aufkündigen. Dreh- und Angelpunkt wahrlich gleichberechtigter Arbeits- und Lebensweisen sind flexible Berufslaufbahnen und Arbeitszeiten ebenso wie projektorientierte Vergütungsformen in Verbindung mit Telearbeit und einem ausreichenden Angebot an Krippen-, Kindergartenplätzen und Ganztagsschulen.

Pinter argumentiert in ihrer Studie über begabte Mädchen, schwierige Jungs dafür, die von Natur aus genetisch, hormonell und neurologisch gegebenen Unterschiede zwischen Frauen und Männern endlich wieder anzuerkennen. Für sie ist der Wahlfreiheits-Feminismus nicht gescheitert, er hat vielmehr gezeigt, dass Frauen aufgrund ihres besseren Kommunikationsvermögens und Empathie-Vorteils eher in Berufen tätig werden wollen, in denen sie es mit Menschen zu tun haben und die sie mit dem Familienleben in Einklang bringen können. Männer dagegen, die eher zur Konzentration auf Gegenstände, zu Aggression und Wettbewerb neigen und an Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), Legasthenie und autistischen Störungen leiden, beschäftigen sich lieber mit Handwerk und Technik. Zugleich sind Männer auffallend häufig extrem, genial oder debil, und entsprechend stark in den führenden Spitzenpositionen des Topmanagements und der Kapitalverbrechen vertreten. Sogar in einer großen Gruppe von mathematisch gleichermaßen begabten Jungen und Mädchen, wählten die Männer später mehrheitlich Berufe in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik), während die Frauen vornehmlich in den helfenden Berufen des Sozial- und Gesundheitswesens tätig wurden. Nur unter starkem politischen oder ökonomischen Druck, wie er in sozialistischen oder orientalisch-asiatischen Gesellschaften anzutreffen ist, erhöht sich der Frauenanteil in den MINT-Fächern wesentlich über 20%. Unter den Bedingungen eines verwirklichten Wahlfreiheits-Feminismus plädiert Pinter dafür, jegliche Förderungen der ohnehin begabteren Mädchen für bestimmte Fächergruppen einzustellen und nur noch den fragileren Jungen gezielte Hilfe zu gewähren, damit sie frühzeitig ihre sozialen Defizite zu meistern lernen und später seltener Unfälle haben und Kapitalverbrechen begehen. Jeweils über 90% der Schwerverbrecher, Terroristen und Amokläufer auf der Welt sind Männer. Aber auch über 90% der Führungselite weltweit ist männlich. Was wäre also, wenn nicht mehr die Extreme der Männlichkeit, sondern das Mittelmaß der Weiblichkeit der Standard würde? Hätte es dann auch die gegenwärtige globale Wirtschaftskrise gegeben? Die Bankerin und Finanzjournalistin Susanne Schmidt, die als RAF-entführungsgefährdete Tochter des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt 1979 in die Londoner City ging, kritisiert in ihrem Buch Markt ohne Moral mit Recht das Versagen der internationalen Finanzelite. Und die Wirtschaftsjournalistin Lisa Nienhaus tituliert die Ökonomen, die offenbar weltweit versagt hatten, als Blindgänger.

Natalie Angier hat eine intime Geographie des weiblichen Körpers verfasst und erhebt darin das Frausein zum Standard: Simone de Beauvoir mag eine Menge soziokultureller Ungerechtigkeiten klarsichtig erkannt haben, aber biologisch gesehen sind Frauen nicht das ,,andere Geschlecht``. Frauen sind das Original. In der Tat! Das Weibliche ist das Urgeschlecht, während das Männliche das abgeleitete Geschlecht ist. Aber hatte Simone es nicht anders gemeint? Schließlich prangerte sie genau das an: Sie wird mit Bezug auf den Mann determiniert und differenziert, er aber nicht mit Bezug auf sie. Sie ist das Unwesentliche gegenüber dem Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere. Und genau das will Simone im Rahmen ihres existentialistischen Feminismus ändern; denn auch eine Frau sollte, wie jeder Mensch, eine autonome Freiheit sein können und nicht mehr in patriarchaler Weise definiert werden dadurch, dass sie sich in einer Welt entdeckt und wählt, in der die Männer ihr vorschreiben, die Rolle des Anderen zu übernehmen; sie soll zum Objekt erstarren und zur Immanenz verurteilt sein, da ihre Transzendenz fortwährend von einem essentiellen, souveränen anderen Bewußtsein transzendiert wird. Gesellschaftliches Frausein ist kein Schicksal, sondern Erziehung: Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Und nur die Vermittlung anderer kann ein Individuum zum Anderen machen. Das hatte Simone bereits 1949 geschrieben. Weibliches Schicksal sind lediglich die natürlichen Anlagen, wie sie in den Genen, dem Hormonhaushalt und der Neurophysiologie vorgegeben sind. 50 Jahre nach Simone zitiert Natalie den Biologen David Crews damit, dass nicht das Weibliche, sondern gerade das Männliche das andere, abgeleite, sekundäre Geschlecht sei; denn Männchen entwickelten sich erst nach der Evolution selbstreproduzierender (weiblicher) Organismen. Männchen sind erworben und wieder verloren worden, aber die Weibchen sind geblieben. Das männliche Muster wird aus der weiblichen Urform abgeleitet und ihr aufgezwungen. Folglich feiert Natalie das rührende Ei als vollkommene Sonnenzelle und als die einzige Körperzelle, die das Ganze hervorbringen kann. So ist es und aufgrund des fortschreitend zerfallenden Y-Chromosoms mag es in der fernen Zukunft unter den Menschen einen Evolutionssprung zum rein weiblichen Menschen geben, der sich wieder ohne Sexualität selbst zu reproduzieren vermag. Den auf dem X-Chromosom kodierten Atavismus übermäßigen Wollhaarwuchses (hypertrichosis lanuginosa congenita) wird es dann vermutlich immer noch geben und es bleibt den Fantasy-Autorinnen überlassen, die Werwolfsmythen weiter fortzuspinnen. Stephenie hat lediglich die Vampire zweigeschlechtlich ausgestaltet, da sie sich von Menschen ableiten, nicht aber die genetisch aktivierten Werwölfe. Damit unterfällt sie einmal mehr der christlich-patriarchalen Ideologie, nach der nicht Adam von Eva abstammt, sondern Eva als von Adam abgewandelt gedacht wird.

Schon Sophokles dramatisierte in Antigone das Aufbegehren einer einzelnen Frau gegen die im Mann verkörperte Staatsmacht. Reading Antigone hat Virginia Woolf am 29. Oktober 1934 in ihrem Tagebuch festgehalten und am 28. Januar 1937 ist zu lesen: Sunk once more in the happy tumultuous dream: that is to say began Three Guineas this morning and can't stop thinking it. Am 3. Juni 1938 war sie fertig: This is the coming out day of Three Guineas. And the Lit. Sup. has two columns and a leader; and the Referee a great black bar woman declares sex war, or some such caption. Womit nur hatte Virginia ihre reaktionären männlichen Zeitgenossen derart provoziert? In furchtsamer Erwartung des nächsten barbarischen Krieges in Europa, hatte sie mit ihrer feministischen Kampfschrift drei Fragen zum Erhalt der Zivilisation zu beantworten versucht. Die erste Frage lautete: How in your opinion are we to prevent war? In der Entgegnung auf dieses drängende Anliegen scheute sie sich nicht, grundsätzlich zu werden. Denn war der Krieg nicht stets Männersache gewesen? Und sollten folglich Kriege nicht einfach dadurch unwahrscheinlicher werden, dass man die Frauen aus ihrer Gefangenschaft im Haushalt befreite und das politische Geschehen bestimmen ließ? Und herrschte der Faschismus nicht gerade in solchen Ländern, in denen die treusorgende Ehefrau als Hüterin der Kinder willfährig das Kanonenfutter für den nächsten Krieg heranzuziehen hatte? Wie schon das Beispiel der Antigone zeigte, wird der Feminismus erst dann überflüssig werden, wenn es keine männliche Gewaltherrschaft mehr geben sollte. Nach dem Verebben der ersten Welle der Frauenbewegung hatte Virginia Woolf den Tyrannen noch einmal den verbalen Krieg erklärt und 40 Jahre später gräbt Heinrich Böll in seinem Beitrag zu Deutschland im Herbst das ästhetische Kriegsbeil wieder aus, um Ulrike Meinhofs Kampf gegen Staatsautorität und für Frauenbefreiung in einen weiten historischen Kontext einzuordnen und sich damit gegen die grassierende Hysterie vom angeblichen Staatsnotstand zu wenden.

Helene Hegemann greift die 1970er in AXOLOTL ROADKILL mit einem Zitat Leisha Hailey's auf: Anyone from the Seventies here? Let's talk. Aber natürlich hat sie das Gespräch über die Siebziger satirisch gebrochen, indem sie ihre 16-jährige Berliner Heldin Mifti klagen lässt: Es gibt so viele Jahre in meinem Leben mit so einer Art Leichenstarre oder wie nennt man das, so einer Art Duldungsstarre oder so, also, sich nicht bewegen, weil man weiß: Das kann jetzt nicht das Leben sein, und da muss man dann durch, durch diese fürchterliche Zeit, man muss das ablaufen, was andere einem als Erfahrung vorschreiben und wo man aber denkt: Das interessiert mich eigentlich überhaupt nicht. Was schreibe ich hier? Ja, was? Denn in Duldungsstarre verfällt auch die Sau, wenn der Eber sie bespringt. Und Generationen von Frauen weltweit haben es ihr immer wieder gleichtun müssen. Bei Mifti ist das zum Glück reflektierter: Ich hab ein Problem mit Sex, weil Sex der bedingungslosen Liebe entgegenwirkt, die ich will und nichts anderes ist als ein egoistischer, tierischer Trieb, der die Menschen, die ich liebe, als fremdgesteuerte Reflexbündel entlarvt. Und dann führt sie ihrer Freundin eine Szene vor Augen, in der ihr neuer Freund ihr ein kompliziertes philosophisches Buch zum Lesen in die Hand drückt und zugleich damit beginnt, ihr die Möse zu lecken. Jedenfalls, nach spätestens drei Zungenschlägen entwickelt sich diese Situation zu einem unfassbaren Kampf zwischen deinem Körper und deinem Kopf, zwischen deiner Biologie und deinem Intellekt. Abgesehen davon, dass auch der Kopf Körper ist und nicht die Biologie, die Wissenschaft vom Leben, kämpft, sondern der Reproduktionsdrang des Lebens mit ihrer Selbstbeherrschung ringt, hat Mifti womöglich einfach nur Angst vor Kontrollverlust und erfüllender Hingabe. Diskussionen über ,,Duldungsstarre`` und ,,Ambiguitätstoleranz`` prägten die Siebziger, Mifti versucht sich zurück in die Grundstimmung des letzten Jahres zu steigern: ... Träume, Verlangen, Sexualität, Glaube. Unterwelt in einem Land, das menstruiert, Tag für Tag erneut zu Scheiße wird und mit seiner unaufhaltsamen Fäulnis all die aus Phantasien zusammengesetzten Existenzen ins Verderben stürzt: Sie sterben. ... Sie spielen, essen, ficken, schlafen, wachen auf, sind nicht zu Hause, wenn das Gas abgelesen werden soll, ... entscheiden sich falsch, buchen einen Pauschalurlaub, verbringen ein Austauschjahr bei Mormonen in Las Vegas ...

In Las Vegas waren sicher auch einmal die schönen, reichen und gläubigen Cullens gewesen. Marc Shaw hat in seinem Beitrag zur Philosophie in twilight über Vampire und Mormonentum angemerkt, dass er seinerzeit zusammen mit Stephenie Meyer die Brigham Young University besuchte. Und wie alle aktiven Jugendlichen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage studierten sie eifrig die mormonische Schrift zur Erbauung der jungen Leute: Für eine starke Jugend, in der Ratschläge gegeben wurden zu Themen wie: Verabredungen, Musik, Ehrlichkeit, Keuschheit, Dienst am anderen, Dankbarkeit, Erziehung, die Zahlung des ,,Zehnten``, die Befolgung der Sabbat-Tage und Freunde. Inwieweit Meyer in der twilight saga mormonische Prinzipien umgesetzt hat, kann jede Leserin selbst nachlesen, ich will hier nur kurz auf den Ewigkeitsaspekt und die Keuschheit eingehen. Ewige Verpflichtungen und bindende Versprechen lassen sich natürlich leicht auf starke, ewig jugendliche Vampire projizieren. Und ebenso ist es die übermenschliche Selbstbeherrschung, die Edward praktiziert, um nicht dem Wohlgeruch des Blutes Bella's nachzugeben, die einer starken Jugend vor Augen führen soll, dass man auch nicht zwingend seinen natürlichen sexuellen Gelüsten nachgeben muss. Gleichsam vergeistigt in der ,,heiligen Ehe`` ist der Sex dann von aller niederen Lüsternheit gereinigt. Wie Kristin Luker in WHEN SEX GOES TO SCHOOL berichtet, wird die unter Jugendlichen grassierende sexuelle Verwahrlosung in den USA häufig noch als Folge der sexuellen Aufklärung in der Schule angesehen. Dass vor allem Armut, Asozialität und der damit einhergehende Bildungsmangel das selbstherrliche Macho-Gehabe der Jungen fördert, wird wohlweislich übersehen. Schon immer waren Promiskuität und Prostitution in den Unterschichten verbreiteter als im Bildungsbürgertum. Die Filme KIDS und KEN PARK Larry Clark's führen den asozialen Kontext der sexuellen Verwahrlosung Jugendlicher anschaulich vor Augen. Wie hinterhältig, kaltschnäuzig und rücksichtslos darin Jungen mit Mädchen und Erwachsene mit Kindern umspringen, ist einfach widerwärtig. Aber nicht religiös motivierte Keuschheit löst das Problem, sondern Befreiung und Selbstbestimmung. In der Utopie KEN PARK's wird am Ende vorgeführt, wie es drei Jugendlichen aus ihren asozialen Elternhäusern auszubrechen gelingt und wie sie sich entspannt-verträumt und heiter-verspielt einem lustvollen Liebesleben hinzugeben vermögen. So einer paradiesischen Utopie eines schönen Lebens hat die FSK natürlich keine Jugendfreigabe gewährt.

Ist Helenes Mifti sexuell verwahrlost? Die Autorin will allerdings nicht moralisieren, nur unterhalten und übernimmt dafür als Motto den Pro7-Werbespruch: We love to entertain you. Ihre Heldin ist zwar orientierungslos, guckt deshalb aber noch lange nicht Unterschichtsfernsehen; denn wie bei jeder drogenabhängigen Minderjährigen mit Reflexionsvermögen äußert sich mein Hang zur Realitätsflucht in einer ausgeprägten Lesesucht. Und was liest sie? Fantasy? Nein, solche hehren Autoren wie Louis Buñuel, Michel Faucault und David Foster Wallace sowie Dostojewski und - die Songtexte von Nick Cave; also Surrealismus, anthropologischen Strukturalismus und postmodern ambitionierte Literatur sowie den Kampf von Christentum und Nihilismus. Und weil Mifti sich von einer Haushälterin irritiert fühlt, hält ihre Freundin Annika sie nicht einfach nur für verwahrlost, vielmehr für wohlstandsverwahrlost. Im Gegensatz zu Wallace, der als brillanter Schriftsteller auch Mathematik und Philosophie studiert hatte, überschattet stets Miftis Liebe zu Adjektiven die Mathematikstunden. Und ganz anders als ihre Freundinnen hat Mifti kein Problem damit, die Begriffe Signifikat und Signifikant auseinanderzuhalten. Aber im Fieberwahn ergreift die Erinnerung daran von ihr Besitz, als sie mit Alice ans Meer gefahren war: Ich wollte aufhören zu denken, weil Wörter bedeutungslos waren, weil Bedeutungslosigkeit bedeutungslos war, weil das Leben nichts wert war, weil meine komplette Physiognomie Teil des in sich stimmigen Organismus eines belebten Himmelskörpers ist, von dem ICH mich abgrenze. Und dann bist du morgens mit mir ans Meer gegangen. Jeden Morgen haben wir das Meer angestarrt und wir waren da so gerne, weil es wie wir war, Alice. Es war die Antwort auf alles. ... Das Meer lebt von den Wellen und jede einzelne Welle bricht irgendwann, einfach, weil sie sich vorwärtsbewegt. Ich sehe immer dein Gesicht und wie es nach irgendeinem Ausdruck strebt. Die Wellen, die sich brechen, verlieren ihre Form und bringen ihre Form dadurch erst richtig zum Ausdruck. ... So ähnlich erging es schon Virginia Woolf,- aber wenn der Film reißt, zerfällt die Welt und es erregt Mifti, dass der Begriff des Hundes nicht bellt. Dabei könnten sie diese linksresignative Kulturszenescheiße auf eine Weise aufmischen, die allen den Schweiß auf die Stirn treibt; denn schon Plato hätte denken können: das Hübsche vergeht, das Schöne bleibt. Und was sagt Edmond zu ihr? ``You write like a roadkill.'' Aber was hatte sie so angefahren? Die Wohlstandsverwahrlosung? Die linksresignative Kulturszenescheiße? Der Generations-Rassismus? Oder der Identifikationsexzess mit Patti Smith? Zur Patti Smith LAND-Kompilation hatte Susan Sontag 2001 im Vorwort geschrieben: Here all voices are at variance, as different songs are being roared out simultaneously. The day was still perfect, the children lovable, distracting, and everybody, from the crushed to the exalted, swayed in the music's updraft. Not bored. Not discouraged. Woman were sassier, and felt sexier. Because of you, precious friend. The music spread everywhere. Vor allem, wenn man - wie Susan - 1973 in New York bei Patti's legendären ``Rock-and-Rimbaud''-Performances dabei war.

Als das Axolotl nicht mehr lächelte, wollte es nur noch fast ... sein wie oscar wilde schrieb ... Dessen Bildnis des Dorian Gray alterte stellvertretend für den ruinösen Lebenswandel des Malers, der ewig jung und schön blieb - wie Edward und dabei gleichfalls bekannte: Ich will gut sein. Ich kann den Gekanken nicht ertragen, eine häßliche Seele zu haben. Von diesem ästhetischen Moralismus ausgehend, versuchte er eine neue Lebensauffassung zu entwerfen, die auf einer durchdachten Philosophie und klar geregelten Grundsätzen ruhen und in der Vergeistigung der Sinne ihre höchste Vollendung finden sollte. Aber im Gegensatz zu Edward hatte die Jugend Dorian letztendlich verdorben. Will Self hat den 1891 erstmals erschienenen Roman Oscar Wilde's mit DORIAN 2002 kongenial fortgesetzt. Mit Lady Victoria, der ,,Fledermaus`` aus dem viktorianischen Zeitalter, deren dürre Ärmchen wie zum Leben erwachte Rohreiniger zucken, schwebt gleich zu Beginn Nyx, die dunkle Seite der Natur ins helle Haus der Zivilisation ein und erfüllt es mit dem morbiden Schleier aus freischwebenden Staubmäusen und verzweigten Spinnweben in abgestandener Luft über nicht geleerten Gläsern und überquellenden Aschenbechern. Die Rückstände und Ausscheidungen des gefeierten Lebens sind nicht immer leicht zu ertragen. In feuchtgebiete hat sich Charlotte Roche ihrer unterhaltsam und angenehm unzimperlich angenommen. Die jugendliche Heldin Helen ist nach einer missglückten Intimrasur mit einer Analfissur in die innere Abteilung des Maria Hilf-Krankenhauses eingeliefert worden und macht sich fortan so ihre Gedanken über das Leben - und ihre geschiedenen Eltern, die sie unbedingt wieder zusammenbringen will. Charlottes ironisch-heiterer Umgang mit dem geradezu epidemisch grassierenden und allumfassenden Sauberkeitswahn ist mit einer Auflage von über einer Million zehnmal häufiger verkauft worden als das Geschreibe der angefahrenen, ewig jugendlichen Helene. Literarischer Anspruch ist halt selten marktfähig. Was aber den konventionell und eingängig geschriebenen Roman Charlottes auszeichnet, ist der provozierend schweinische Inhalt. Die Neigung Jugendlicher zur Ganzkörperrasur ist ja nur Endpunkt einer fatalen Entwicklung zur schicklichen Reinlichkeit, die dem normalen Schmutz und Dreck in der Welt schon so weit den Garaus gemacht hat, dass kaum noch ein Mensch heutzutage frei von Allergien und sonstigen Überempfindlichkeiten oder Autoimmunreaktionen ist. Helens hemmungsloses Suhlen in den Feuchtgebieten ihres Leibes wie ihrer Pflanzen und ihres Krankenzimmers ist sehr erfrischend zu lesen nach dem allfälligen Beklatschen des kosumidiotischen Herdentriebs und modeverrückten Mitläuferwahns im Medienkapitalismus der letzten Jahrzehnte. Waren die Hippies noch stolz auf ihren natürlichen Haarwuchs, fühlen sich die jungen Frauen der gegenwärtigen POP-Kultur häufig wie ein Mängelexemplar, das weder schlank noch haarlos genug ist und nicht selten auch noch an mangelnder Fröhlichkeit leidet: ,,Eine Depression ist ein fucking Event``. Meine Güte. Mein neuer Psychiater gebärdet sich wie ein Popstar. So leitet Sarah Kuttner ihren Roman über die - auch selbstironische - Leidensgeschichte der im Mediengeschäft tätigen jungen Frau Karo ein, die nicht mehr richtig funktioniert und mitzuspielen versteht. Und da ein Unglück selten allein kommt, hat sie auch noch Beziehungsprobleme mit ihrem Freund und beginnt sich übermäßig allein und verlassen zu fühlen, schutzlos ausgeliefert dem rücksichtslosen Wettbewerb im Medienkapitalismus und einfach nur verloren in der großen, weiten Welt; ist doch die Psyche so viel komplizierter als eine schöne glatte Fraktur des Schädels - oder eine rasiermesserfeine Analfissur ...

Wohl als Gegenbewegung zur letzten Welle des Fantasy-Booms gedacht, haben einige Frauen sich zusammengetan und den Verlag ANAIS für Lust und Literatur gegründet. Im Werbetext heißt es: Die ANAIS-Autorinnen erzählen ganz natürlich und authentisch von Sex, Liebe und Beziehungen: ohne Umschweife - einfach nur gute Literatur. Da kann man gespannt sein; denn gute Literatur ist nicht gerade verbreitet in den Bestseller-Listen. Zwei Bücher aus der Reihe erotischer Frauenromane habe ich gelesen und beginne mit Frühling und so. Als die Schülerin Rebecca Martin an ihrem Buch schrieb, war sie mit traumhaften 17 Jahren genauso alt wie Helene Hegemann beim Schreiben ihres Erstlings. Rebeccas erotischer Reigen der Jahreszeiten hebt an im Frühling. Weil es wärmer wird in diesen Tagen ... Aufgestanden, Nutellabrot, Kräutertee, Zähne geputzt. Montag, März 2007. Heute Morgen bin ich mit einem Bein aufgestanden, das nicht viel mehr versprach als einen Tag voller deprimierender Teenagergedanken. Wenn mir schon kein Mann vergönnt ist, warum kann es nicht wenigstens eine Wahnsinnskarriere sein ... Über einen passenden Herrn machen sich schon die jungen Damen bei Jane Austen einleitend ihre Gedanken; zeitgemäß bei Rebecca ist der Traum von einer ,,Wahnsinnskarriere``. Immerhin. Und wie geht es aus? Wir könnten heiraten und so. Tja, da ist wohl in 200 Jahren Emanzipation noch einiges unvollendet geblieben. Und sollten vielleicht auch noch die Glocken läuten und alle lächeln? Die Schülerin wird es natürlich bloß ironisch gemeint haben. Oder sollte es sich etwa ernsthaft um einen Roman über eine sexuelle Odyssee und die Suche nach der großen Liebe handeln, wie es der Klappentext verheißt? Wie auch Bella und Helen ist Raquel eines dieser Scheidungskinder, zugleich aber das glücklichste Mädchen der Welt! Und was sagt ihre beste Freundin Ida? Jedes Mädchen braucht mindestens drei Dinge: eine beste Freundin, einen besten Freund und einen festen Freund. Eines der drei wichtigen Dinge im Leben einer jungen Frau fehlte Raquel allerdings gerade; denn ihr fester Freund Noa hatte sie im Winter verlassen. Was jetzt? Den Verlust betrauern oder sich der wiedererlangten Freiheit erfreuen? Des Teenagers Gedanken kreisen im Wesentlichen um Männer und Kuchen. Und wovor hat Raquel wirklich Angst? Jemand aus ihrer Familie oder Ida zu verlieren. Der Zukunft gegenüber hegt sie keine Angst, will sie doch Künstlerin werden, traut sich das aber nicht offen zu sagen, da das schließlich alle täten und sich unheimlich sexy dabei fühlten. Aber kann man Künstlerin überhaupt werden? Ist man das nicht einfach? Weniger hochtrabend ausgedrückt geht es den mehrheitlich vom Unterschichtsfernsehen geschädigten Jugendlichen heutzutage darum, irgendwas mit Medien zu machen. Unter Kabarettisten ist das Kürzel IMM bereits zum verarschend geflügelten Wort avanciert. Wehmütig denkt die Verlassene über ihre vergangene große Liebe nach und darüber wie sich ihre Eltern damals sorgten, als sie erstmals bei ihr übernachten wollte - und dann mit 14 ihren ersten Sex hatte. Nunmehr sitzt sie mit einem Erik in der Berliner S-Bahn, sie halten Händchen ... aber dann sagt er vor dem Aussteigen leider das Falsche: ,,Ich hab dich lieb``, sagt Erik. Peng. Stimmung weg. Er umarmt mich und steigt aus. Danach bemühe ich mich, ein paar Tränen rauszuquetschen. Aber ,,Ich hab dich lieb`` ist ungefähr das Schlimmste, was ein Junge sagen kann. So etwas von unmännlich, das gibt's gar nicht. Diese ganze Verweichlichung der Männer, die zurzeit ständig in den Medien besprochen wird - aaah, furchtbar! Das war wohl nichts! Und in der Schule? Mathearbeit verhauen. Natürlich; denn Intellektualität ist nicht mein Ding. Aber vielleicht klappt es mit Julian. Am liebsten hätte ich eine gute Fee, die ihn verzaubert oder Liebestrank in den Tee schüttet. Oder, wenn er sich wirklich kein bisschen in mich verlieben kann, warum fängt er nicht wenigstens eine Sexbeziehung mit mir an wie die anderen? Typisch für den Frühling und so hat Raquel sich trotz allem verliebt: Ich genieße es in rosaroten Atemzügen, verliebt zu sein. Mit voller Wucht, wie frisch/neu/aufregend es ist, wie eine Ostereiersuche, immer wieder Seiten zu entdecken, die du von dir selbst nie gekannt hast. Im Sommer lernt Ida einen neuen Freund kennen und wundert sich: Verrückt, wie zufällig oder schicksalsbehaftet es ist, wen wir überhaupt treffen und in wen wir uns davon dann verlieben. Während Raquel auf dem Bahnhof auf ihre beste Freundin wartet, vertreibt sie sich die Zeit damit, schöne Wörter zu suchen, wie z.B. Ahornsirupbaumblätter und Was-wäre-wenn: Die Menschen sind zu schüchtern, alle gucken penetrant woanders hin im öffentlichen Leben. Wie viel einfacher es sein würde, wenn es anders wäre. Und was ist ihre romantische Vorstellung von Liebe? Auf einer Blumenwiese nackt im warmen Regen tanzen? So ähnlich: Nackt mit einem Mann über die Straße rennen, wie in dem Film L'auberge espagnole. Als der Sommer sich wieder seinem Ende nähert, macht sich die Schülerin grundsätzliche Gedanken: Provokant soll die Jugend sein, laut und drastisch und individuell. Und andererseits sorgt sich jeder nur um die Meinung anderer, um seine Abiturnoten, die Arbeitslosigkeit und den Kontostand. Einschließlich mir. Aber ist das Anprangern von chronischer Unzufriedenheit und spießigem Stumpfsinn nicht nur etwas für nihilistische Kulturkritiker wie Woody Allen? Dabei wollte Raquel sogar Künstlerin werden, also den Inbegriff von Provokation und Individualismus verkörpern? Das waren wohl bloß naive Träumereien.

Nach Herbstbeginn schreibt die junge Frau erst einmal ein paar Definitionen von Glück auf: In Prenzlauer Berger Bioladen Kekse probieren, in den Himmel schauen und die Wolken vorbeiziehen sehen, neue Orte in Berlin entdecken, die man noch nie gesehen oder bewusst wahr genommen hat, das Kleingedruckte in der Werbung lesen, ein kreativer Motz-Straßenzeitungsverkäufer. Im Geschichtsunterricht Rosinen naschen. Trotz des gelegentlichen Gefühls von Leere und Ausweglosigkeit und dem Appell ihrer Eltern, ihrem Leben einfach mehr Struktur zu geben, gelingen der eher orientierungslosen Heldin immer wieder Schilderungen schöner poetischer Momente, wenn sie etwa unter Palmenwedeln auf grünem Gras liegt und ihr Blick den Mimiken Dutzender Gesichter wie ein Räuspern gen All nachspürt: Komm, berühr mich, schüttle mich, sag mir, dass ich existiere, dass du mich siehst, dass du das fühlst, was ich fühle, vielleicht. Wenn ich schreie und die Hilflosigkeit in meinen Augen glitzert - warte, warum drehst du dich nicht um? Gestern war das Meer noch violett und der Wind war weiß; jetzt legt sich die Dämmerung über den Garten und taucht mich und euch in graue Monotonie. Ich werde ein Gänseblümchen nehmen und euch damit erschießen. Ist die Empfänglichkeit ausgeprägt genug, reichen schwächste Momente, um stärkste Wirkungen zu zeitigen: wie beim Schmetterlingseffekt. Aber hat er sich umgedreht? ,,Komm mal her``, sagt er. Wie zu einem Kind. Seine Hände wandern meinen Körper entlang. ... Emil schläft mit mir, obwohl er weiß, dass ich die Pille nicht nehme, schläft er mit mir, über mir, während mir fast die Tränen kommen, vor Schmerz und vor Angst, schläft mit mir, während er mir den Mund zuhält, grob und zärtlich zugleich, wie eine vorweggenommene Entschuldigung für alle in Frage kommenden Konsequenzen. ... Er verkauft es beinahe als Geschenk, mit ihm schlafen zu dürfen. Das sollte mich wütend machen, denke ich, als selbstbewusste Frau. Mit dem Selbstbewusstsein ist es so eine Sache, ähnlich wie mit der Unverbindlichkeit. Einige Beachclubs und Partyhallen weiter, hat Raquel den Eindruck, mit einem Model Sex zu haben. Mit einem Mann, der körperlich zu schön für mich ist, absurd unerreichbar. Dabei bin ich schlecht rasiert, nicht geduscht, es ist drei Uhr nachts, ... er verführt mich auf das Wortwörtlichste und ich spüre nichts außer ... außer mein Wollen. Meine Geilheit. Das schlechte Gewissen Jugendlicher, nicht rasiert oder geduscht zu sein, ist das den spießigen Eltern oder dem Privatfernsehen anzulasten? Wenigstens Helen wären derartige Gewissensbisse fremd gewesen. Nun ist aber das Gewissen das Eine und die sexuelle Hörigkeit das Andere: Mit Leon zu schlafen wirkt wie eine Droge auf mich. Jedesmal Mal mehr erweckt in mir den Durst nach einem weiteren Mal. ... Und dann, kurz bevor ich komme, kommt er, sein ganzer Körper zuckt, es ist schön anzuschauen, aber da sind sie wieder, die Machtverhältnisse. Wie antike Säulen im korinthischen Stil. Ihm geht es um die Macht über sie, während sie aus Liebeskummer Liebe braucht und aufpassen muss, sich nicht in ihn zu verlieben: Ich verwechsele sie zu leicht, die Liebe mit der Freundschaft mit der sexuellen Anziehung. Im Winter bleiben trotz der rauschenden Verliebtheitsphasen die Machtverhältnisse in den wechselnden Beziehungen ein Problem. Unfreiwillig betrete ich die Erwachsenenwelt, beobachte mich wie von außen, während mein Ich sich irgendwie verändert, selbstständig, wie meine Umwelt um mich herum auch. ... Und trotz aller Paradoxie muss ich denken, dass jung sein auch so schön ist, weil man die Palette der möglichen Emotionen gerade erst erforscht. Schiller war zu intellektuell für Liebeskummer. Aber was soll Dichtung schon für das Leben bringen; denn dort sind selbstbewusste Männer sehr selten. Das, was wir im Frühling auf den nächtlichen Straßen mitten im Leben erfahren, wirkt viel nachhaltiger als ein analysiertes Gedicht von Joseph Eichendorff. Sollte die Schülerin womöglich das verständige Lesen aufgegeben haben? Doch dann liest sie zusammengekauert im Polstersessel das Buch einer selbstbewussten Frau aus den 1950er Jahren und lässt sich wegtragen von einem französischen Sommer auf Segelschiffen im Mittelmeer: Die Cécile aus Francoise Sagens Roman Bonjour Tristesse ist ein schönes 17-jähriges Mädchen.

Der Teenager Francoise Sagan nahm sich bereits 1954 die Freiheit heraus, die jugendliche Heldin in ihrem autobiographischen Roman bekennen zu lassen: Die einzige Charaktereigenschaft, die meinem Wesen entspricht, ist die Freude am Vergnügen und am Glücklichsein. Ein Bezug auf den Lebemann Oscar Wilde fehlt natürlich auch nicht: Die Sünde ist der einzige lebendige Farbfleck, der in der modernen Welt existiert. In den 1950er Jahren beflügelten die Freiheitsbekundungen des Existentialismus die europäische Jugend. Wenngleich am Ende mit Bonjour Tristesse die Traurigkeit begrüßt wird, lohnt es sich, sein Leben in Freiheit selbst zu gestalten. Davon handeln auch die Frauenbücher aus dem ANAIS-Verlag. Den zweiten Liebesroman aus der Reihe habe ich gewählt, weil er im Schanzenviertel Hamburgs spielt: Schanzen-Slam von Victoria Robinson. Die Autorin ist ebenso wie ihre Heldin Lea Studentin und besucht gerne Poetry-Slam-Sessions. Wie schon Frühling und so, ist Schanzen-Slam konventionell und einfach geschrieben, lässt aber weitgehend Nachdenklichkeit und Poesie vermissen, obwohl der Titel suggeriert, das Buch sei stilistisch eine Slam-Session. War es Raquel peinlich, sich ungeduscht mit einem Mann im Bett zu vergnügen, hatte Lea nach dem ersten Fick mit ihrem Objekt der Begierde doch tatsächlich darüber nachgedacht, am nächsten Tag nicht zu duschen, weil sie von ihm eingehüllt bleiben wollte, auch wenn er nicht mehr bei ihr war. Im Kontext des biederen Reinlichkeitswahns ist das schon ein geradezu revolutionärer Gedanke. Und was trieb Leas Freundin Tine so? Die arbeitete in einem Sonnenstudio und wusste beim morgendlichen Aufsperren des Ladens nie, ob und mit wem sie flirten, spielen oder schlafen würde. Ihr Arbeitsplatz wurde zu ihrer Bühne, auf der sie täglich unterschiedliche Rollen verkörperte und die Reaktionen ihres Publikums aufmerksam verfolgte. Mal ging sie als Femme fatale, mit rot geschminkten Lippen, schwarzen Lederstiefeln und einem kurzen Rock. Ohne Slip, versteht sich. Ein anderes Mal kam sie als ,,Unschuld``, flocht sich morgens sorgfältig zwei dicke Zöpfe und kam fast ungeschminkt in einem niedlich gemusterten Blümchenkleid. Rollenspiele dienen der Übernahme und dem Einüben von Geschlechter- und Berufsrollen. Das beginnt mit den Kinderspielen in der Sandkiste und endet mit den Rollenspielen im Berufsleben. Seriöses Auftreten und dezente Bräune ebenso wie Wohlgeruch und Sauberkeit gehören zum Vortäuschen von Großspurigkeit im Business-Rollenspiel einer Bank. Von den Erfahrungen eines Mädchens auf dem trading floor, dieser Kreuzung aus Knabenschule und Straßengang, handelt der romanhafte Arbeitsreport einer jungen Frau, die ab 2004 in der Londoner City ihrem trading project folgt, um Karriere im front office einer Investmentbank zu machen: DIE CITY, das Girl, die Geschichte. Suzana ist studierte Musikerin, lechzt aber nach Geld und Nervenkitzel. Und so beginnt sie mit einem Buchhaltungs-Praktikum im back office, steigt mit der Verwaltung von CDO's ins middle office auf, um endlich die Welt zu erreichen, in der es nur noch um das Geschäft geht: Geschlecht oder Stil zählten in dieser Welt nichts. Nur die Zahlen. Im Kopfrechnen war sie gut und mit Excel-Tabellen wusste sie ebenfalls umzugehen. Aber war Trading wirklich etwas für Mädchen? Dominierten nicht die city boys das Geschäft? Und hatte sie als akademisch gebildete Musikerin überhaupt die passenden Voraussetzungen? Zum Glück liebte die City das Adrenalin, das Durchhaltevermögen und das Konkurrenzdenken von Sportlern und Musikern. Unter den 18 gimps der Schulungs-Programme für die Börsenzulassung und das day trading war Suzana das zweite Mädchen. Nach dem Erlernen einiger Faustregeln, vielerlei Vorschriften, Definitionen und Handelsstrategien sowie einigen Wochen Übung mit einem Simulationsprogramm beginnt die aufregende Arbeit auf dem trading floor. Fortan bestimmt nur noch eine Zahl am Ende eines jeden Tages ihr Leben: G + V. Und ausgerechnet ihr musikalisches Studium sollte Suzana in die Lage versetzen, dem Markt immer wieder mit unkonventionellen Trades Gewinn abzuluchsen: In der Musik geht es vor allem darum, dass man Rhyhtmen, Muster, Intervalle und Themen findet, und unbewusst wendete ich diese Übung auf die Marktdaten an. Ja, 2006 konnte man noch Geld verdienen. Aber dann? Ich hatte das Glück, das Schwanzende der Boomjahre mitzubekommen. Ich hatte mich durch den schlimmsten Teil der Flaute geschuftet. Jetzt war ich für das nächste Kapitel der City bereit. Sie würde sich selbst neu erfinden und aus der Kreditkrise wieder auf die Füße kommen. Ob Sonnenstudio oder trading floor: Hat die Selbstermächtigung von Frauen noch etwas mit Feminismus zu tun?

Im MISSY MAGAZINE, der Popkultur für Frauen, stellt Jette Gindner im Mai 2010 die Frage: Lieber sexy als gleichberechtigt? Der Feminismus ist tot - es lebe die Selbstermächtigung. Frauensolidarität? Danke nein, wir sind schon befreit. Die Autorin hat einige feministische Bücher der letzten Jahre gelesen und beklagt, dass der Selbstermächtigungsdiskurs den Feminismus abgelöst habe, obwohl der noch längst nicht vollendet sei; denn Karrierefrauen handelten schlicht nach folgender Logik: Wenn du die Männer nicht schlagen kannst, werde einer von ihnen. Sexismus gegenüber anderen Frauen ist noch immer die einfachste Art, sich mit Männern zu solidarisieren und Härte im Job zu beweisen. Und in der Popkultur sei sowieso alles erlaubt, da man es ja stets ironisch meine. Aber wie steht es mit dem Reality-Check? Eine zentrale Forderung der zweiten feministischen Welle war zum Beispiel Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und faire Aufteilung der Kinderbetreuung. Dazu diskutert die Philosophin Elisabeth Badinter in ihrem neuen Buch Le conflit die These, dass nicht mehr der Mann, sondern das Kind der schlimmste Unterdrücker der Frau sei. Agnès Toular kommentiert das Buch in MISSY und hebt besonders die wiederholt betonte Wahlfreiheit zwischen den Frauen- und Männerrollen hervor. Gerade in Deutschland hapert es daran aber nach wie vor, da die herrschende Politik unverändert die traditionelle Mutterrolle der Frau fördert und es noch viele Jahre dauern wird, bis endlich genügend Kinderkrippenplätze vorhanden sein werden und sich Frauen nicht mehr als Rabenmütter vorkommen müssen, wenn sie die Kleinen in die Krippe geben. Die androgyne Revolution, der Badinter einmal im Anschluss an Virgina Woolf das Wort redete, ist ebenso wie der Feminismus noch lange nicht vollendet. Unter welchen gesellschaftlichen Verhältnissen zwischen ökonomischer Basis und staatlichem Überbau würden sich genau so viele Männer wie Frauen für MINT-Fächer interessieren, auf gleichem Niveau im Sozial- und Gesundheitswesen arbeiten, sich um die Kinder kümmern und in die Führungselite aufsteigen? Gingen damit nicht auch die Verhältnisse einher, die weniger Kriege, ökologische Katastrophen und Wirtschaftskrisen zur Folge hätten?

Wäre nach den philosophisch-politischen Formen des aufgeklärten und revolutionären Feminismus, nach den Spielarten des romantic feminism und gothic feminism mit dem androgynen Feminismus endlich eine gemeinsame Perspektive für die Emanzipation von Frauen und Männern erreicht? Wie den Hexenwelten zu entnehmen ist, hatten die Frauen in den 1970ern zur Wiedererlangung der Macht über ihre Körper an die Hexenmythen und -verfolgungen angeknüpft: ,,zittert, zittert, die Hexen sind wieder da``, dieses Motto war 1977 richtig, erinnert sich eine von ihnen. Damals war es notwendig, um auf patriarchalische Strukturen und Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen. Mit dieser Phase des Protestes fing alles an. Ich bin selber eine alte Frauenbewegungsfrau. Für mich waren die Demonstrationen wichtig, um mir den Raum wieder zu nehmen, auch in dieser aggressiven Weise, und zu sagen, he, ich bin wer. So, wie wir sagten, unser Bauch gehört uns, die Nächte gehören uns. Walpurgisnacht-Demonstrationen sind selten geworden, dafür werden die Hexen umso häufiger in Fantasy und Filmkunst zum Thema. Aber ist das noch im Sinne der Frauenbewegung? Antje Flemming hat sich in ihrer Dissertation über Lars von Trier mit den goldenen Herzen und geschundenen Körpern seiner Heldinnen auseinandergesetzt - und kommt dabei zu einem vernichtenden Urteil: Die Frau ist eine Hexe. Die Frau ist böse. Die Frau ist schuldig. Mit seinem unverschleierten Frauenhass und seiner reaktionären Denkweise ist ANTICHRIST zugleich konsequente Fortführung und Kulmination der Obsession seines Schöpfers mit dem Geschlechterverhältnis. Für Antje ist Lars ein bessener, egozentrischer und herrschsüchtiger Machtmensch, der sich unter dem Deckmantel der künstlerischen Freiheit hemmungslos austobt und an seinen Schauspielerinnen vergeht. Eine autobiographische Deutung seiner Werke ebenso wie eine pro-feministische Weltsicht lässt sie nicht gelten. Statt mitfühlender Identifikation mit dem Los der Frauen, transportierten seine Filme noch die anachronistischsten Frauenbilder. Den Zusammenhang zwischen Kunstschaffen und Selbsttherapie reduziert Flemming bei von Trier auf das Marketing einer Mediengestalt, deren Ziel die perfekte Selbststilisierung ist. Von Trier erzählt mit seinen Filmen Parabeln, die auf Allgemeingültigkeit zielen. Die in seinen Werken durchgängige Opferrolle der Frau bringt Antje besonders auf die Palme; denn offensichtlich eignen sich Frauen zum ultimativen Opfer und lassen sich beherrschen, ... weil Frauen leidensfähig sind. Lars lasse die Frauen verstummen und nehme ihnen Sprache und Vernunft: In sterotyp patriarchaler Tradition sind die Frauen bei von Trier ganz Gefühl, ganz Körper. Was ihnen fehlt, ist die Ratio. In ANTICHRIST kulminiert dieser Topos, wenn die Frau in ihrer Hexenhaftigkeit mit der unheilbringenden, tödlichen Natur verschmilzt. Andere Frauen sehen in den Filmen von Triers nicht nur den machtversessenen Macho am Werk, sondern plädieren, wie die von Flemming zitierte Heidi Laura, für eine Auseinandersetzung mit den historischen Formen von Misogynie. So wie wahre Wissenschaftswerke Möglichkeitsräume zum Vordenken erschließen, schaffen schöne Kunstwerke jeweils eine Atmosphäre zum Nachfühlen. Als gelungene Erkenntniskunst ist ANTICHRIST beides und versetzt das kleine, kunstsinnige Publikum der Filme von Triers in ein Wechselbad von Reflexionsebenen und Gefühlsextremen; der existentiellen Bedrohung nämlich, dass sich der Mann mit der als Natur gedachten Frau auch seiner eigenen Natur beraubt und mit der Natur seine Lebensgrundlage schlechthin zerstört. Anstatt sich davor zu fürchten, ist das Chaos der Natur kreativ zu nutzen.

Im Kontext dieses Essays bezieht sich Lars mit ANTICHRIST auf den gothic feminism und romantic feminism seit Austen. Die naive Opferrolle der jungen Frauen, die ihnen von Anbeginn in den Schauer- und Liebesgeschichten zukommt, ist bei von Trier aber weit aufgefächert worden. Die Motivgeschichte von Weiblichkeit und Tod reicht bis in die Theogonie der aus dem Chaos hervorgehenden Nyx zurück. Und so wie die Muttergöttin das Leben und die Welt überhaupt erst hervorbrachte, ist es im Patriarchat jeder Frau zugleich gegeben, Leben zu schenken und Tod zu bringen. Dieser direkte Zusammenhang besteht natürlich nur, insofern die Frau als Natur gedacht wird und mit dem Leben immer auch das Sterben einhergeht. In der Kultur des Mannes ist es aber zumeist der Mann, der die meisten Morde begeht und Kriege führt. Es ist also die patriarchale Herrschaftsideologie, die es sich nicht eingestehen kann, dass die Frauen das Leben hervorbringen und die Männer es häufig vorzeitig beenden. Flemming zitiert Bronfen, die den Gedankenkomplex Frau - Opfer - Tod als Rätsel des westlichen Diskurses bezeichnet hat: Tod und Weiblichkeit dienen als zwei der zentralen Rätsel des westlichen Diskurses dazu, das Unaussprechliche, Unerforschliche, Unlenkbare und Schreckliche zu repräsentieren; dasjenige, was nicht direkt angesehen werden darf, sondern durch die Gesetze der Gesellschaft und die Kunst kontrolliert werden muss. Wie Flemming hervorhebt, wirke es auf von Trier gleichsam erlösend, wenn durch den Tod einer Frau das Prinzip Männlichkeit wieder hergestellt worden sei: Ich leide nicht unter der Wahnvorstellung, dass Frauen im wirklichen Leben martyriumssüchtige Masochistinnen seien. Ich könnte solche Frauen auch schwerlich ertragen. Es geht um schöne Kunstfiguren, um eine Form, eine ästhetische Idee von Erlösung. Während es in dem ästhetisch geläuterten Katholizismuns von Triers bloß um schöne Kunstfiguren geht, ist in der mormonischen Fantasy Meyer's the third wife's sacrifice als die aus der Kulturgeschichte der native americans übernommene Opferrolle der Frau anzusehen. Und der japanische Filmemacher Kwak Jae-young hat 2008 in seiner wissenschaftlichen SciFi-Perspektive CYBORG SHE einer Cyborgine die Opferrolle lediglich einprogrammieren lassen. Dabei ist der weibliche kybernetische Organismus ähnlich auf seinen Herrn Jiro programmiert worden wie Stephenie Emily und Sam als aufeinander geprägt beschrieben hat. CYBORG SHE ist ein zugleich urkomisches und tieftrauriges SciFi-Melodrama, wie es wohl nur Asiaten hinbekommen. Man kann den Film wieder und wieder sehen und sich einfach von der Stimmung mitreißen lassen. Unter den vielen filmischen Verweisen und mehreren zeitlichen Handlungsebenen ist auch ein Dialog über die Angst des Mannes vor dem Tod hervorzuheben, den Kwak Jae-young offensichtlich bei Woody Allen entlehnt hat. Existentielle Ängste sind einer Cyborgine natürlich fremd und sie versteht es ebenso wie die Freundinnen der Allenschen Helden, die ihn überkommende Niedergeschlagenheit und sein allgemeines Sinnlosigkeitsgefühl durch die Hinweise abzumildern, dass es mit dem Ableben ja noch etwas dauern werde und er sich erst dann darüber Gekanken machen solle, wenn es soweit sei. Zugespitzt auf eine grotesk absurde Situation hat Woody das existentielle Dilemma in seiner Kurzgeschichte Dracula aus Wie du dir so ich mir. Darin lässt der Komiker den Grafen angesichts der Dunkelheit draußen eine befreundete Familie besuchen. Der Vampir gerät dann aber nicht minder in Panik als ihm eröffnet wird, dass es nicht schon Nacht sei, vielmehr das seltene Naturschauspiel einer Sonnenfinsternis beobachtet werden könne ...

Woody Allen, Roman Polanski und Phil Claydon haben sich einen Spaß aus den Mythen gemacht und sich einen Scherz mit dem Dracula-Stoff erlaubt. Nun ist aber nicht erst seit Freud bekannt, dass in jedem Witz ein Körnchen Wahrheit schlummert. Der Traum vom ewigen Leben und der Wunsch von der andauernden Jugend ist mit der Popkultur zur weltumspannenden Lebenshaltung geworden. Vampire, Werwölfe und Hexen durchschauern die Fantasy; Androide, Avatare und Cyborgs stellen das biotechnische Arsenal der SciFi. Wie bereits in Goethes genialer Bearbeitung des Faust-Mythos' werden dabei die naturverbundenen Lebenselexiere der Hexen ebenso wie die Genexperimente der Wissenschaftler zur Verwirklichung der Menschheitsträume herangezogen. Von alters her ging es den Hexen um die matriarchale Wiedererlangung der Kontrolle über ihre Körper im Bund mit der Natur. Im Kampf mit der religiös-patriarchalen Moral wurden sie dafür ins Ehegefängnis gesperrt, hinter Klostermauern umerzogen oder einfach zum Tode verurteilt und verbrannt. Mit der Frauenbewegung lebte der Jahrtausende alte Gegensatz zwischen weiblicher Natur und männlicher Moral wieder auf,- auch in dem von Puritanern dominierten Neu-England. John Updike hat sich in seinen Romanen Die Hexen von Eastwick und Die Witwen von Eastwick 1984 und 2008 einen Spaß daraus gemacht, die heuchlerische Doppelmoral der Anglikaner von den lebensfroh naturmächtigen Hexen aufmischen zu lassen. Mit schriftstellerischem Können gelingt es Updike ironisch und humorvoll, Satanismus und Hexenwelten in einer satirischen Perspektive androgynen Feminismus' aufgehen zu lassen. Der Roman von den Hexen aus Eastwick ist in drei Kapitel unterteilt: Der Hexenring, Malefica, Schuld. Wie bei Austen und Stoker heben die Geschichten damit an, dass in der Nähe junger Frauen ein mysteriöser Mann ein Anwesen mietet: Es war ein schöner, schwarzer, rauher Mann und sehr kalt, der da ins Lenox-Haus der Kolonie Rhode Island eingezogen war. Die drei Hexen des Ortes, Jane, Alexandra und Sukie, machten sich so ihre Gedanken über das neue Gemeindemitglied. Jane war beeindruckt, wie behaart seine Handrücken waren und Lexa machten die behaarten Hände und sein adliger Name ganz versonnen: ,,Wie feudal``, sagte Alexandra und machte sich ganz weich und weit, war bereit genommen zu werden. Ein großer dunkler Europäer, ein Ausgestoßener seines alten heraldischen Erbes, ein fluchbeladener Wanderer ... Was so einen wohl in die Kloake Neuenglands verschlug, in diese Zufluchtsstätte für Quäker und Antinomisten, diese feinsten Destillate des Puritanismus, und doch fest in der Hand der Katholiken. Aber auch hier war der allgemeine Aufbruch der Frauen zu spüren, die mehr und mehr begannen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Alexandra war Künstlerin. Sie formte kleine Figurinen, die ihre Freundinnen ,,Duttelchen`` genannt hatten: pummelig-unförmige weibliche Körper, ... oft zusammengerollt oder hingekauert in entspannter Haltung. Jane war ebenfalls der Kunst zugeneigt: der Musik. Um ihren Unterhalt aufzubessern, gab sie Klavierstunden und übernahm gelegentlich die Chorleitung in den Kirchen der Umgebung, aber ihre Liebe galt dem Cello. Der Dritten im Bunde, Sukie, mangelte es an künstlerischem Talent, dafür liebte sie das menschliche Miteinander und hatte Spaß am Schreiben. Ihren Unterhalt verdiente sie sich mit Reportagen für den Eastwick-Anzeiger. Aber nunmehr gab es etwas am Ort, das größer war als der Hexenring: Darryl Van Horne kam Sonntag abend zum Kammermusikkonzert in der Unitarierkirche: ein bärenhafter dunkler Mann mit fettigem krausem Haar. Graf Dracula, der Teufel, unter den Christenmenschen. Die Hexen verfielen unversehens seinem Bann, der stärker war als ihrer. Und wie er sie anging: Lexa's kleine Puppen fand er potent, aber viel zu klein. An Jane's Cellospiel beanstandete er die Bogenführung, die betont präzise war, jedoch blutleer und leidenschaftslos klang. Menschliche Aufschreie sollten auch als solche gespielt werden! Und welchen Tätigkeiten oder Projekten ging der dunkle Mann mit den behaarten Händen selbst nach? Er arbeitete an synthetischen Polymeren, mit denen er ein Interface zwischen Solarenergie und elektrischer Energie erzeugen wollte. Ein bloßer Anstrich sollte flächendeckend den photoelektrischen Effekt bewerkstelligen. Der Lebensrhythmus der Hexen wurde weiterhin von ihrem wöchentlichen, unzerbrechlichen Dreieck bestimmt, dem Kegel der Macht. Aber wie lange konnte ihr Dreieck noch dem stärkeren Verlangen widerstehen? Darryl hielt eine Frau im Vergleich zum Mann für den höherentwickelten Mechanismus. Das gab den Hexen zu denken. Ein Mechanismus, ein Roboter, der sich jeder seiner ewig gleichen Bewegungen grausam bewußt war. Dabei brauchte der Geist Narrheit wie der Körper Nahrung. Jane warf den Ball hoch und sah zu, wie er sich in eine Fledermaus verwandelte und Lexa sammelte bei Vollmond Kräuter, nackt. Eine Dreierprozession in die Bärenhöhle ließ nicht mehr lange auf sich warten. Der Teufel pries über alle Maßen die Hexenleiber und mit Marihuana zur Musik Janis Joplin's bewies er übernatürliche Beherrschung. Als er dann kam, war sein Samen, wie später alle übereinstimmten, wunderbar kalt.

Den Hexen von Eastwick erging es wie der jungen französischen Hexe um 1660: ,, Ich will nicht anders sein als ich bin. Ich finde so viel Befriedigung in meiner Lage, ich werde immerfort liebkost.`` Befriedigende Liebkosungen hatten gerade den Reverend aus dem Ort getrieben. Eines dieser Blumenkinder hatte ihn aus seinem Ehegefängnis befreit und ihn mit nach New York genommen, um sich der Protestbewegung anzuschließen. Dawn Polanski hieß das Hippie-Mädchen bezeichnenderweise. Mit Teenagern hatte schon der Regisseur seinen Spaß gehabt, nun erlebte der Reverend seine Morgenröte. Aber was blieb der Verlassenen mit den Kindern? Das Pfarrhaus. Wie bei Jane Austen, könnte man denken. Und da es der Familie nicht gehörte, würde sie schon bald ausziehen müssen. Die Hexe Sukie hielt sich unterdessen häufiger bei ihrem Meister auf, der sie ermunterte, das Schreiben eines Romans in Angriff zu nehmen. Sie genoss es sichtlich, ihm alles sagen und mit ihm machen zu können. Gern schweiften ihre Gedanken ab in der wohlwollend verständnisvollen Atmosphäre, die er ungezwungen herzustellen vermochte. Zu Mädchenzeiten schon war es ihr eine Wonne gewesen, heimlich Männer zu beobachten, dieses andere Geschlecht, das so verknüpft war mit dem ihren, sich so groß tat und so kühne, forsche Reden führte und dabei doch so schutzbedürftig war; lauter Babies in Wirklichkeit, sobald man ihnen die Brüste zum Saugen darbot oder leicht den Schoß öffnete und sie einlud: wie sie sich dann dort verkrochen, und hineinwollten ... Sie mochte es besonders, die Männer einfach lecken und küssen und sich laben zu lassen an ihrer Lockentorte. Und Van Horne? Der war wie eine Frau in seiner unerschütterlichen Freundlichkeit, aber von der Physis her natürlich ungeheuer männlich: wenn der einen fickte, tat das weh. Ist das andere Geschlecht das androgyne dritte Geschlecht? Um nicht von ihren Affären zu erzählen, ließ die Hexe den Teufel von seinen Vorhaben mit der Natur berichten. Dabei redete Darryl natürlich gern von sich, von seiner Hoffnung, im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik eine Lücke zu finden, so wie es sie einstmals zur Zeit des Urknalls gegeben haben musste. Claus Kiefer hat den Stand der Forschung zur Quantengravitation im Quantenkosmos zusammengefasst. Danach ist auch dem Teufel noch keine Lösung des Problems eingefallen. Es ist halt alles nur / die ewige Natur. Während Van Horne von Vitalität und Unternehmungslust nur so strotzte, begannen die vormaligen Liebhaber Sukie's - zu schwächeln. Einer hatte sich einfach umgebracht, ein anderer ließ sie schnarchend vollenden, was er begonnen hatte. Wieder erwacht, klaubte er seinen College-Lukrez hervor und suchte vergeblich die Stelle, wo vom Abweichen der Atome die Rede ist, diesem zufälligen, ungelenkten Abweichen, durch das Materie sich verbindet, und durch das, in sich häufenden Kollisionen, alles entstanden ist, auch die Menschen in ihrer unerklärbaren Freiheit. Ulrich Hoyer hat in seiner Synthese der Atomlehre die Entwicklung von den antiken Atomisten bis hin zu den modernen Quantentheoretikern im Detail methodisch rekonstruiert. Es gibt nur die Atome und die Leere - über dem Abgrund, das Chaos im Nullpunktsfeld, dem die Abweichungen, die Fluktuationen entstammen. Können auch Worte so wirken? Darüber gerieten die Hexen in Streit: ,,Worte sind nur Worte``, sagte Jane. ,,Eben nicht! Durch sie passieren die Dinge!`` sagte Sukie flehend; ihre Stimme war zu einem dünnen Klagelaut geschrumpft. ,,Zwei Menschen sind tot, und zwei Kinder sind Waisen, unseretwegen.`` Wirklich? Waren das nicht eher Zufallskorrelationen? Denn ein Zauberbann wird schal, verliert seine Wirksamkeit nach ungefähr einem Monat, wenn nicht menschliches Blut hinzukommt. Junges Blut vermochte wahre Wunder zu wirken. Warum nur hatte Sukie eines der Waisenkinder zum Tennismatch auf das Anwesen des Teufels mitgenommen? Waren es Schuldgefühle gewesen? Die Wirkung der wohlgerundeten Jennifer auf Darryl konnte wohl kaum unterschätzt werden. Und so musste Sukie ihr Waisenkind auch noch vor der Malefica ihrer Hexenfreundinnen in Schutz nehmen. Am Ende hatte das junge Blut natürlich gewonnen. Ebenso wie die verheißungsvolle Dawn Polanski, mit der sich der Reverend beim Bombenbasteln in die Luft gejagt hatte. Einigen militanten Weatherman-Aktivisten war das in den 1970er Jahren mitten in New York tatsächlich passiert. Jenny hielt sich da lieber an die Hexenprozession. Wohldosiert versorgt mit Natriummilch und den Extrakten aus Baldrian und Fingerhut und Canabis Indica überließen sich die Hexen mit Wonne den teuflischen Scharaden, die allerdings nicht selten im tolpatschigen Umgestüm der Schauspielleidenschaft Van Horne's endeten und es ihn trieb, in einer einzigen grimmigen Gesichtsverrenkung ganze Buchtitel auszudrücken, wie Aufstieg und Fall des römischen Reiches oder Die Leiden des jungen Werther oder Der Ursprung der Arten. ,,Dien mir!`` schrien die durstige Haut und die Sinne, und geduldig cremte Jennifer die Hexen ein, rieb die verwandelnden Öle in die Runzeln, ... rieb an gegen die Maserung der Zeit und stieß dabei kleine vogelhaft gurrende Laute des Mitgefühls und der Lobpreisung aus. Was Jennifer's Body so alles mit dem bärenhaften Grafen und seinen willfährigen Draculinen anstellte, erzeugte schon bald in den Hexen des kleinen Ortes eine heftige innere Unruhe, die in anderen klosterengen Städten die Verse der Emily Dickinson und den kühnen Roman der Emily Brontë hervorgebracht hatte. In Eastwick dagegen machte nur das Gerücht von Hexerei die Runde ...

Die Menschen sind immer noch abergläubisch, trotz aller modernen Wissenschaft. So war es schon zu Zeiten der antiken Atomisten, so ist es noch heute. Und ebenso wie Updike machte sich auch der Freigeist Nietzsche darüber lustig: Man erinnere sich doch der berühmten Hexen-Prozesse: Niemand bezweifelte ihre Schuld, nicht einmal sie selbst - und dennoch fehlte die Schuld. Für die drei Hexen hörte der Spaß auf, als Darryl ihnen unverhofft eröffnete: Das Kind hier und ich sind seit gestern nachmittag um halb vier verheiratet. Die Natur nahm einfach ihren widerlich natürlichen Lauf. Aber dennoch geriet das ach so tolerante Hexentrio aus der Fassung, so dass Darryl zu überzogenen Vergleichen flüchten musste: Was soll diese Eifersuchtskiste, während die ganze Welt in Napalm aufgeht? Wie beschissen bürgerlich könnt ihr noch werden? Hatten sich die Hexen in Wirklichkeit überhaupt nicht emanzipiert? Spielten sie bloß das Emanzen-Trio? Ein schlimmeres Schimpfwort als ,,bürgerlich`` war in den 1970er Jahren unter Politaktivisten und Feministinnen kaum möglich. Heute dagegen, wo die Proletarisierung längst alle Lebensverhältnisse banalisiert hat, streben die jungen Leute kaum etwas sehnlicher an, als bürgerlich zu werden - und nicht einmal das Spießertum ist ihnen zuwider. Aber war es seinerzeit wirklich wesentlich anders? Hinter der revolutionären Attitüde und emanzipierten Fassade grassierten nach wie vor Intoleranz und Moralismus. Ebenso bestimmten Eifersucht und Missgunst das Verhalten und Gefühlsleben - auch der Hexen. Die hegten sogar noch weit schlimmere Ressentiments und praktizierten unter Einsatz ihrer ganzen Hexenkunst den primitivsten Vodoo-Zauber. Aber konnten sie damit wirklich ihrem Herren und Meister etwas anhaben? Der hatte wenigstens immer ein offenes Ohr für sie gehabt und sie dabei auch noch so richtig schön durchgefickt. Nun mussten die Hexen wieder mit ihren gewöhnlichen Liebhabern vorlieb nehmen. Nur Alexandra konnte sich da nicht beklagen, wenn sie ihm seine Lieblingsstellung, von hinten, sie auf den Knien, gewährte: Welch eine Naturgewalt sein Rammen! Wie er bebte, als er kam! Wie ein Handtuch aus dem Trockner, das noch zusammengefaltet in irgendein luftiges Bord ihres sonnigen leeren Hauses gestapelt werden mußte, fühlte sie sich nach dieser heftigen Episode geschleudert und klargespühlt. Und während Jenny, das Opfer ihrer rituellen Magie, erbärmlich dahinsichte, ging es den Hexen immer besser; denn eine Schuld kam ihnen nicht zu, wurden sie doch nur benutzt vom Universum. Für Jenny war es der Blick in ein bodenloses ,,Nimmermehr``, das schon E. A. Poe, der Altmeister des Schauerromans, mit seinem Raben heraufbeschworen hatte. Die Außenseite der Dinge war Sonnenschein und Zerstreuung: die Innenseite von allem war der Tod. Maria, die Prinzessin, Jenny: eine Prozession. Bevor sich Darryl Van Horne wieder davon machen wollte, nutzte er die Gelegenheit, eine Predigt zu halten; eine kirchliche Reformmaßnahme, die ab und an allen Gemeindemitgliedern offen stand. Selbstredend las er nicht aus der Bibel vor, sondern schlug ein Webster's Collegiate Dictionary auf der Kanzel auf. Der Teufel begann mit dem Tausendfüßler und kam dann in längeren morbiden Ausführungen über das schreckliche Gewusel in der Natur zum Titel seiner Predigt: DIESE SCHÖPFUNG IST SCHRECKLICH. Der Schrecken in der Natur wurde durch die Grausamkeit des Menschen noch entsetzlicher und so fragte Darryl provozierend in die Tiefe des Kirchenschiffes hinein: Wißt ihr, was man in Deutschland mit Hexen machte? In ausschweifender Ausführlichkeit behandelte der Teufel im Detail die Folterinstrumente und qualvollen Torturen, denen man die zumeist jungen Frauen aussetzte. Am Schluss seiner ausufernden Tiraden stellte er der aufgewühlten und erschöpften Gemeinde eine Frage: Das ist die Schöpfung. Hättet ihr es nicht besser machen können, mit dem Material? Hölle auch, ich hätte es gekonnt. Also, gebt eure Stimme das nächste Mal mir, okay? Amen. Nachdem Van Horne sich verabschiedet hatte, um nach Frankreich auszuwandern, verschwanden auch die Hexen aus dem Ort. Was blieb, war ein Skandal, der das Leben wie aufsteigender Rauch zur Legende verdrehte.

Eine Generation später sind die Hexen nicht einfach nur geschieden, sondern nach dem Ableben ihrer zweiten Ehemänner Die Witwen von Eastwick geworden. Seinen Fortsetzungsroman hat Updike wiederum in drei Kapitel untergliedert: Der neugeschmiedete Hexenring. Die wiederbelebten Hexenkünste. Die getilgte Schuld. Alexandra hatte die Einsamkeit des Witwendaseins als erste getroffen. Und weil ihr das Töpfern nicht mehr so gut gelingen wollte wie einst, ging sie auf Reisen. Das war nicht nur ablenkend und beschäftigend, es regte auch zu vielerlei Gedanken und Reflexionen an. Angesichts der Kontinentaldrift, die so etwas Gewaltiges wie die Rocky Mountains hervorbrachte, bedachte die Hexe ihr Verhältnis zur Natur. Das hatte ihr immer Kopfzerbrechen bereitet; denn sie verließ sich auf die Natur sie lernte von ihr, sie war Natur, und doch war etwas in ihr, etwas anderes, das die Natur fürchtete und hasste. Das ganze Elend in der Welt und die Gebrechlichkeit im Alter. Ja, das Leben an sich, mit all der Nahrungsaufnahme und Fortpflanzungstätigkeit, war der Inbegriff von Überflüssigkeit. Ein Krebs. Wieviel Gewicht z.B. die Elch-Bullen mit sich herumschleppen, nur damit Sie andere Bullen abwehren und Ihren Harem von bis zu hundert Kühen behalten können. Wie viel Ficken braucht die Natur? Das fragten sich die mitreisenden Witwen interessiert und erregt. Und letztlich laugte das ständige Kämpfen mit Konkurrenten und das Bespringen der vielen Kühe die Bullen völlig aus und sie starben und überließen ihren Platz den jungen und kräftigen Nachfolgern. Bullen wie Männer sind eigentlich ziemlich jämmerliche Geschöpfe; ihren Trieben ausgeliefert fühlen sie sich immer so hilflos, wenn sie lieben. Lexa hatte nicht nur wiederkehrende Träume von Eastwick, sie telephonierte auch hin und wieder mit Jane. Und worüber sprachen sie dabei? Über ihre ehemaligen Gatten? Ihre längst erwachsenen Kinder? Natürlich, aber dann, eines Tages, machte Jane den Vorschlag zu einer gemeinsamen Reise - nach Ägypten. Dort interessierten sie sich besonders für die Spuren des Isis-Kultes, der von den Naturreligionen übernommen, weiter entwickelt und bis weit ins römische Reich hinein erhalten geblieben war. Es hat sicher einmal eine weibliche Urreligion gegeben, bevor die Männer sich einmischten und sie an sich rissen. Wieder daheim, fand Lexa einen langen Brief Sukie's vor - und so waren sie auf ihrer nächsten Reise wieder zu dritt, wie einst im Hexenring. Weiter der Rückbesinnung auf ihre kulturellen Wurzeln folgend, machten sich die Hexen auf den Weg nach - China, an die große Mauer und flogen in die uralte Stadt Xi'an, dem Ort, an dem sich matriarchalische neolithische Siedlungen bis auf das Jahr -4500 datieren lassen. China verzückte die drei Frauen; denn ohne Gehorsamsreligion war das Land von jenem Christentum unberührt geblieben, das mit der Inbrunst seines eigenen verleugneten Begehrens Hexen verfolgt hatte.

Virginia Woolf hatte an die ägyptische Kultur angeknüpft, Updike lässt seine Hexen zudem in China ihre Wurzeln finden. Welche Wendung würde der Bewusstseinsstrom im Neuronengewitter der Hexenhirne als nächstes nehmen? Ein Wohlfühlurlaub mit Drogen und Unzucht in der Karibik? Das war wohl eher was für Club-Med-Typen und nichts für alternde Hexen. Aber was blieb ihnen eigentlich noch vom Leben? Jane zählte es auf: Weise zu werden, die Welt zu betrachten, von Augen und Ohren Gebrauch zu machen, kurz: die Fülle des Bewusstseins auszuschöpfen. Und dann erinnerten sie sich an ihre gemeinsame Zeit in - Eastwick. Aber was war aus der Verhexung geworden? Sukie zerstreute Lexa's Bedenken sogleich: Keine Verhexung bleibt ewig wirksam. Die giftige Atmosphäre lag an der Zeit, an den Verfallserscheinungen am Übergang von den sechziger Jahren in die siebziger Jahre, und daran, dass wir jung waren, voller Saft und Kraft und in einer spießigen Umgebung festsaßen. Schließlich siegte die Alterssentimentalität und das Trio machte sich zur Wiederbelebung ihrer Hexenkünste auf den Weg nach Eastwick. Dort angekommen, erging es Sukie ähnlich wie einst Mrs Dalloway. Um einem alten Bekannten und Liebhaber aus dem Weg zu gehen, versuchte sie es mit einem diagonalen Schritt, sodass er sie, um ihr den Weg abzuschneiden, schon auf das Schaufenster des Christian-Science-Leseraums prallen lassen musste, wo ein vergilbtes Exemplar der Bibel auf einem Ständer bei Matthäus 8 aufgeschlagen war; ein kleiner Plastikpfeil deutete auf den Vers: Jesus streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: ,,Ich will es - werde rein!`` Im gleichen Augenblick wurde der Aussätzige rein. Sollte sich auch Sukie als ,,Aussätzige`` fühlen im Reich der Christenheit? Unbeschadet überstand sie die missliche Begegnung, kam aber nicht darum herum, ihren Aufenthalsort preiszugeben. Das Lenox-Haus war unterdessen in eine schicke Apartment-Anlage umgewandelt worden; gleichwohl hatten die Hexen den Eindruck, wieder in den fünfziger Jahren angekommen zu sein. Und so konnten sie sich ausgiebig ihrem gemeinsamen Schwelgen in Erinnerungen hingeben oder getrennt ihren Interessen nachgehen. Nach einiger Zeit raffte sich Lexa sogar auf, ihre älteste Tochter Marcy zu besuchen, obwohl es ihr nicht leicht fiel; denn die Kinder heute waren zu dem geworden, wovor die Hexen damals immer gewarnt hatten. Oh, diese Generation, dachte Alexandra. Sie haben uns gegen unsere fromme Erziehung rebellieren sehen, während sie heranwuchsen, und als Reaktion darauf sind sie in all die alten Rührstücke zurückgeplumst - Familie, Heim und was es sonst noch an tyrannischen Institutionen gibt. Und Sukie? Die war auf der Straße einem ihr irgendwie bekannt vorgekommenen Mädchen der Enkelgeneration begegnet: Eine verwirrende Vorstellung, dass die Stadt von Enkeln in Besitz genommen und Sukies Generation nur noch als abgesunkene DNA-Sedimentschicht gegenwärtig sein sollte. Shalevs Archäologin Ella hätte diese Vorstellung kaum verwirrt; blicken doch die Israelis auf eine viel längere Geschichte zurück als die Amerikaner. Und in der Kirche? Dort hatte Sukie den Eindruck, als würde die Pastorin nur für sie predigen. Als Thema hatte die Gottesfrau das Selbst gewählt. Ein passender Text dazu schien ihr Matthäus 16,25: ,,Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.`` Das war ein Text, mit dem ein moralisierender Christenmensch so richtig gegen die grassierende Selbstbezogenheit, die Egozentrik und den Egoismus als Folge der übertriebenen Selbstverwirklichung wettern konnte. Jesus und Buddha - und Brahman und Allah - sagen: ,,Macht euch leer.`` Aber wenn wir alles aufgegeben haben, sind wir dann überhaupt noch etwas ohne den ganzen Konsummüll? Die medienkapitalistisch verblödeten Menschen geraten schon in eine Krise, wenn ihnen bloß das Handy, die Glotze oder das Auto genommen wird. Bleibt nur die alarmistische oder hypochondrische Sorge um die Gesundheit? Die drei verworfenen Frauen kamen überein, ihre übernatürlichen Fähigkeiten wiederaufleben zu lassen, an dem Tag zu unternehmen, an dem Janes bedeutsame Röntgenuntersuchung anberaumt war; ihre Besorgnis deswegen hätte sonst womöglich einen dunklen Fleck auf den transparenten Kegel der Macht geworfen. Mussten die Röntgenstrahlen nicht die Eingeweide völlig durcheinanderbringen? Schließlich ist die Luft voll mit diesen Strahlen und Partikeln, das wissen wir ja alle, sorgte sich Jane, ,,aber ich spüre sie obendrein. Radio, Radon, Neutrinos, jetzt Dunkle Energie - das ist das Neueste, was sie entdeckt haben`` ... Einstein blieb da angesichts seines Endes sehr viel gelassener; denn er fühlte sich aufgehoben im Universum, fremd nur unter den Menschen. Noch bis zu dem Moment, als sein Aneurysma der Bauchaorta platzte, dachte er über die vereinheitlichte Feldtheorie nach. Der Weltweise hatte sein Selbst auszuschöpfen verstanden. Und Jane? Die hielt das Ganze für Quatsch: ,,Wer hat denn schon je von einem Aneurysma der Bauchaorta gehört? Seit dem gesamten Vorgang kneift es mich im Solarplexus. Im Polarhexus.`` Auch die Hexen waren sterblich, doch sie erinnerten sich an die Namen des Gefolges der Göttin. Mit dem Anrufen der ,,Göttin`` verbanden die verworfenen Frauen den fraglichen Plan, die einstige Missetat durch eine gute Tat zu sühnen. Aber das Hexentrio dachte und die ,,Göttin`` lachte: ,,Scheiße. Das tut weh``, wisperte die verwundete Witwe Jane ...

Am Ende stand Die getilgte Schuld, aber konnte das verbliebene Hexenduo ohne Jane noch einen Ausflug zu den berühmten palastartigen ,,Cottages`` von Newport unternehmen? Die Frage Lexa's danach beendet das Buch: ,,Und wohin reisen wir beide in diesem Jahr?`` Mit seinem Crossover zwischen mythischer Fantasy und ironischer Literatur sind dem Romancier Updike zwei lesenswerte Bücher gelungen, die unterhaltsam und kunstfertig an Jane Austen und Virginia Woolf anknüpfen und dabei zwanglos literarischen Anspruch mit schlichter Satans- und Hexen-Fantasy verbinden. Einen nicht minder erheiternden Roman, der ebenso humorvoll und ironisch die Bestseller-Autorinnen aufs Korn nimmt wie die geldgierigen Banker und Finanzberater, hat Bodo Kirchhoff mit seinen Erinnerungen an meinen Porsche vergelegt. Und für alle Leserinnen, die schon einmal daran gedacht haben mögen, selbst ein Buch zu schreiben, kann sein Roman zugleich als Anleitung zum eigenen Schreiben gelesen werden. Mit einem unverhohlenen Bezug auf Virginia hebt Bodo an: Regel Nummer eins: Wer ein Buch schreiben will, muss Zeit und Geld haben und wenigstens einen guten Grund. Zeit hatte ich genug unter all den Prominentenleichen im Waldhaus, ebenso Geld, ob in Übersee oder hier, und mein Grund lag auf der Hand, wenn ich an mir heruntersah; dazu kam die Weltlage in diesem Herbst, womit ich das allgemeine Finanzchaos meine. Fehlte noch der Anstoß, um aus Notizen ein Buch zu machen, und da reichte es, dass gleich zwei ungebremste Frauen am selben Wochenende in der Kurklinik auftauchen wollten: die Frau, ohne die es keinerlei Grund gäbe, überhaupt nachzudenken, und meine liebe Ursel, die mich zur Welt gebracht hat. Und das Ende vom Lied? Meine Geschichte hatte ja bei A angefangen, A wie DanielA, und sie konnte nur bei Z enden, Z wie Zaibunissa. Der von seiner Freundin schwer an seinem ,,Porsche`` getroffene und von seiner altlinken Mutter unverstandene Macho macht sich wiederhergestellt auf den Weg nach Indien - zu seiner immer hilfsbereiten und verständnisvollen Zaibunissa. Ironischerweise trieb es dorthin schon die Neoromantiker und Hippies. In einer anderen Welt als seine Hippie-Mutter und sein altlinker Vater lebt auch Philip, der Held des Romans Das erotische Talent meines Vaters von Björn Kern. Darin sieht der moralisierende Sohn die exotische Freundin Alma, die zu jung für den Vater und zu alt für den Sohn ist, geradezu als ,,Hexe`` an. Denn seine Erinnerung an sie war wie ein Flugzeug, das durch seine Vergangenheit flog: Die Cessna überflog den Park und nahm Kurs auf den See, in dem ich vor wenigen Stunden mit Alma gestanden, wenn auch nicht gebadet hatte, mit dieser kleinen, gut riechenden Hexe, die ihr Ziel erfolgreicher verfolgte als ich meins. Fühlte er sich vielleicht ,,verhext`` von der fremden Frau, wie einst die prüden Würdenträger und verklemmten Pfaffen? Sollten die Frauen kämpferisch und ironisch einmal mehr an die Hexenmythen anknüpfen? Kampflesben hatten es schon den Vampirkillern schwer gemacht, erschienen sie doch sexy und feminin, aggressiv und tough, sexuell versiert und begehrenswert, in ihrem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl unangreifbar. So beschreibt Sabine Fuchs aus Hamburg-Ottensen ihre Erinnerung daran, was sie als junge Lesbe so an Femme beeindruckt hatte. Ist Femme! radikal - queer - feminin eine weitere Form des Feminismus? Im Gegensatz zum androgynen Feminismus geht es dem Femme-inismus um die Wiedererlangung der Weiblichkeit in Freiheit. In Jamie Babbits Film But I'm a Cheerleader könnte Megan der Traum eines jeden Jungen sein: Sie hat lange blonde Haare, trägt kurze Röckchen und ist begeisterter Cheerleader. Das Problem ist: Sie hört außerdem Melissa Etheridge, isst vegetarisch, hat Poster mit vaginal anmutenden Blumenmotiven in ihrem Zimmer hängen und - küsst nicht gerne Männer. Die Machtausübung im Verhältnis Butch/Femme bzw. Top/Bottom oder ficken / gefickt werden ist damit aber nicht ausgestanden, nur verlagert worden. Die der Selbstverwirklichung folgende Selbstermächtigung unterhöhlt den Femme-inismus ebenso wie den Feminismus. Gibt es also überhaupt keine Frauenbewegung mehr, sondern nur noch eine Vielzahl feministischer Spielformen? So sieht es aus.

Ausgewählter Frauenliteratur von A bis Z, von Jane Austen bis Juli Zeh, vom raffinierten Feminismus bis zur post-feministischen Selbstermächtigung, wollte ich nachgehen. Wie der Welterfolg Stephenie Meyer's gezeigt hat, ist die Selbstermächtigung bei den nachwachsenden Mädchen und jungen Frauen allerdings im Begriff, der Selbstunterordnung zu weichen. EMMA hat sich bereits sorgenvoll dazu geäußert. Aber der Spaß an Fantasy und das Bestehen des Alltags sind zweierlei und so werden die Mädels auch nicht wieder so hinterwäldlerisch wie ihre Urgroßmütter werden. Dennoch bleibt zu beklagen, dass die meisten Mädchen und jungen Frauen bloß mit dem Strom schwimmen. Dabei waren die gothic novels ursprünglich in Opposition zur Literatur geschrieben worden. Lakshmi Krishnan zitiert dazu in ihrer Untersuchung Vampiric Selves and Gothic Doubleness in Wuthering Heights den Urvater des Genres Horace Walpole: I wrote it in spite of rules, critics, and philosophers. Unter der Überschrift Gothic: Literature of Opposition fährt die Autorin in den Dracula Studies fort: From its inception, gothic fiction has been a literature of resistance, defying tradition, and transgressing boundaries. Widerstandsliteratur hat Stephenie ihrem Selbstverständnis nach auch geschrieben, geht es ihr doch darum, der im Internet vorherrschenden Pornographisierung der Jugend entgegenzuwirken. Um der sexuellen Verwahrlosung vorzubeugen, ist die Betonung von Zärtlichkeit und Mitgefühl, Verständnis und Interesse in den Liebschaften der jungen Leute natürlich ausgesprochen lobenswert. Aber deshalb muss man noch lange nicht die Grenzen enger setzen und sich auf hinterweltliche Traditionen beziehen. Gleichwohl ist die twilight saga als Jugendbuchreihe für ansonsten aufgeklärte und zur Selbstständigkeit erzogene Jugendliche nur zu empfehlen, auch in ihren literarischen Verweisen. Emily Brontë z.B. ist immer wieder lesenswert und im Kontext des Vampirismus' kommt Lakshmi zu dem Ergebnis: In the characters of Catherine and Heathcliff, Brontë explores a complex psychological and metaphysical characterization of vampirism, one that elevates it beyond a mere metaphor for those separate from us. Instead Wuthering Heights compels us to believe that our very selfhood is often artificially fragmented, and that the rich vampire metaphor becomes a powerful, albeit ambiguous way to reunite these counterparts. Heide Crawford hat The Cultural-Historical Origins of the Literary Vampire in Germany aufgearbeitet. Danach tritt der Vampir als literarische Gestalt erstmals in dem gleichnamigen Gedicht Heinrich August Ossenfelders auf, das 1748 in der Fachzeitschrift Der Naturforscher erschien. Bei Ossenfelder ist Der Vampir ein Blutsauger, der sich einem Mädchen mit dem Versprechen eines Erlebnisses nähert, das es weit mehr erzittern lassen wird als die gegebenen Lehren der guten, frommen Mutter. Alsdenn wirst du erschrecken, / Wenn ich dich werde küssen. Dem Tod des Mädchens wird die Geburt der Frau folgen. Aber wird es sich noch um einen Christenmenschen handeln? Ist aus dem vermeintlichen Opfer vielleicht eine unsterbliche Heldin geworden? Im Matriarchat war es noch das Werk des Weibes, das aus einem naturwüchsigen Mann einen zivilisierten Menschen machte. Im Patriarchat ist es das Werk eines Vampirs, das aus einem christlichen Mädchen wieder eine naturwüchsige Frau macht. Und heute? Ist es eine Vampirin, die zur Heldin des 21. Jahrhunderts taugt? Dieser Frage geht Victoria Amador in den Dracula Studies nach: The Post-feminist Vampire: A Heroine for the Twenty-first Century. Victoria macht eine ganze Reihe von Vamps aus in den Medien, die dem LGBT-Umfeld entstammen: lesbian/gay/bisexual/transgender sind und damit noch immer Grenzen sprengen und Horizonte erweitern. Angesichts der weltweit wiedererstarkten Religionen kann man nur hoffen, dass es so weiter geht: At a time when the word ``vampire'' has as much of a dangerous cachet as the word ``feminist'', more and more woman continue to be fascinated by the children of the night, and the bittersweet music they make. Wahrlich coole Vamps müssen aber noch erfunden werden. Die sollten ihre Herkunft natürlich nicht auf das Christentum beziehen, sondern aus dem viel älteren Isis-Kult mit seinem Bezug zur Nyx hervorgehen. Und anstelle der Figuren Jane Austen's wäre das Personal aus den Romanen Virginia Woolf's zu verarbeiten und in das weite Feld der Freidenker Bloomsbury's auszudehnen, so dass Mythen und Religionen in Kunst und Wissenschaft aufgingen. Nur: Mädels, die sich dafür interessierten und begeistern könnten, müssten wohl noch geboren und erzogen werden.- Aber wer weiß ...


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ingo 2010-06-27